Behördenschelte für Hartz IV: Unrecht mit System
Berliner Behörden stellen der Hartz-IV-Umsetzung in der Hauptstadt ein miserables Zeugnis aus. Die staatlichen Stellen sind mit den Gesetzen überfordert.
Genervte Richter, überlastete Jobcenter, entrechtete Bürger: Die Umsetzung der Hartz-IV-Gesetze stellt nicht nur die EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld vor Probleme. Auch die staatlichen Stellen sind zunehmend überfordert. Am Donnerstag traten VertreterInnen der Berliner Behörden gar gemeinsam vor die Presse. Fazit: Das Hartz-Unrecht hat System.
"Wir brauchen dringend gesetzliche Verbesserungen, die von den Kollegen in den Jobcentern einfach und konsequent umgesetzt werden können", sagte Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) auf einer gemeinsamen Pressekonferenz. Zuvor hatte sie einen Tag lang mit VertreterInnen der Sozialgerichte, der Jobcenter und der Bezirke über die Probleme bei der Hartz-Umsetzung beraten.
Grund für die Debatte ist der Hartz-Koller in Berlin: Immer wieder hatte das Berliner Sozialgericht in der Vergangenheit auf die stetig wachsende Zahl an Hartz-IV-Klagen verwiesen und Nachbesserungen am Gesetz gefordert. 2009 erwartet das Gericht abermals einen Klagerekord: 25.400 Klagen allein gegen Hartz-IV-Bescheide, damit 18 Prozent mehr als im Vorjahr prognostizieren die Richter.
Die Klageflut ist offenbar ein Ausdruck der Überforderung in den Jobcentern. Dort haben die MitarbeiterInnen erstens keine Zeit, die Bürger ordentlich zu beraten, zweitens verstehen viele von ihnen die Rechtsmaterie selbst nicht vollständig. Dies räumte auch Jens Regg, Regionalleiter der Bundesagentur für Arbeit in Berlin-Brandenburg, ein: Es gebe zu wenig Personal, und nicht alle Mitarbeiter seien ausreichend qualifiziert, um die komplexen Gesetze umzusetzen. Die Folge: teils 20-seitige Bescheide, deren Rechtssicherheit oft fraglich ist - und die für Laien kaum nachvollziehbar sind.
Für viele Betroffene sind daher die Gerichte der letzte Weg: "Für Hartz-IV-Empfänger ist es häufig fast unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen, weil sie erstens nicht wissen, was ihnen zusteht, und sie zweitens häufig keine Hilfestellung beim Jobcenter erhalten", sagte Ines Mroß, Fachanwältin für Sozialrecht. Fallspezifische Rückfragen seien oft unmöglich "und wenn, dann mit dem lapidaren Verweis, dass alles in Ordnung ist". Die Praxis sieht anders aus: Weil die Jobcenter selbst überfordert sind, werden viele Hartz-IV-EmpfängerInnen zu Unrecht existenzieller Leistungen und Rechte beraubt. Das zeigt die Statistik des Gerichts. Denn dort steigt nicht nur die Zahl der Klagen, sondern offenbar auch ihre Berechtigung: "Über die Hälfte aller Klagen gegen Hartz IV werden bei uns mittlerweile zugunsten der Kläger entschieden", sagte Sabine Schudoma, die Präsidentin des Berliner Sozialgerichts.
Dort hat sich seit Einführung der Gesetze zum 1. Januar 2004 durch die rot-grüne Bundesregierung die Zahl der Klagen fast vervierfacht und so einen Verfahrensstau ausgelöst, in dem derzeit rund 17.000 unbearbeitete Aktenberge liegen.
Vor diesem Hintergrund hatte Berlins Justizsenatorin von der Aue bereits im Januar die Hartz-Gesetzgebung kritisiert und als "Murks" bezeichnet. Besserung erhofft sie sich von einer Arbeitsgruppe der Justizministerkonferenz der Länder, die damit beschäftigt ist, praxistaugliche Verbesserungen für die Hartz-Gesetze zu erarbeiten. Im November sollen diese mit den Arbeitsministern des Bundes und der Länder beraten werden.
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