Behörden zählten Personen doppelt: Weniger militante Islamisten
Die Zahl der gefährlichen Islamisten in Deutschland sinkt überraschend auf 850. Grund ist ein Statistikfehler: Leute wurden doppelt gezählt.
BERLIN taz | Die Geheimdienste und Polizeibehörden haben jahrelang die Zahl militanter Islamisten deutlich zu hoch angesetzt. Das erfuhr die taz aus Sicherheitskreisen.
Demnach ist nach einer Bereinigung der gemeinsamen Statistik die Zahl der Menschen, die von den Behörden dem „islamistisch-terroristischen Personenpotenzial“ zugerechnet werden, überraschend deutlich auf rund 850 gesunken. Noch im Februar dieses Jahres hatte das Bundesinnenministerium von rund 1.000 Personen in diesem Spektrum gesprochen. Im April 2011 waren es sogar noch 1.100.
Gemeint ist mit der etwas sperrigen Formulierung „islamistisch-terroristisches Personenpotenzial“ der weiteste Kreis von Männern und Frauen im militanten Spektrum in Deutschland. Erfasst werden auch deutsche Islamisten, die sich gerade im Ausland aufhalten. Nicht von allen muss dabei eine konkrete Gefahr ausgehen.
Der Grund, warum diese Zahl jahrelang zu hoch angesetzt wurde, sind Mehrfachzählungen. Der Hintergrund: Militante Islamisten führen neben ihrem echten Namen meistens einen oder gar mehrere Alias-Namen, zum Beispiel „Abu Talha“, „Abdul Ghaffar“ oder „Ummu Asadullah“. Dazu können noch virtuelle Identitäten kommen, unter denen die Männer und Frauen in Dschihad-Foren im Internet unterwegs sind. Dadurch wurden offenbar manche der Islamisten in der Statistik doppelt gezählt.
In Sicherheitskreisen will man die deutlich niedrigere Zahl freilich nicht als Entwarnung gewertet sehen. Denn die Zahl der Personen, denen die Sicherheitsbehörden tatsächlich zutrauen, einen Anschlag zu begehen, sei im vergangenen Jahr wieder gestiegen. Das Bundeskriminalamt zählt momentan 139 solcher islamistischen „Gefährder“, im September 2011 waren es noch 126. Auf dieser Liste landen etwa Männer, die in einem Terrorlager ausgebildet wurden.
Drei Verdächtige im Visier
Nach dem Fund einer Bombe im Bonner Bahnhof vor zwei Wochen war zunächst ein Deutsch-Somalier aus dem Kreis der „Gefährder“ von der Polizei in Gewahrsam genommen worden. Er wurde wenige Stunden später wieder laufen gelassen. Er habe nichts mit dem versuchten Anschlag zu tun, sagt sein Anwalt.
Seit zehn Tagen ermittelt die Bundesanwaltschaft in der Sache. Es lägen Anhaltspunkte dafür vor, dass in Bonn ein Anschlag einer Terrorgruppe islamistischer Prägung verübt werden sollte, teilte die Behörde mit. Aber auch die Karlsruher Ermittler sind seitdem nicht entscheidend weitergekommen. Mindestens drei Verdächtige hat man im Visier, aber Verhaftungen hat es nach wie vor keine gegeben. Man habe immer noch „nichts Belastbares, um das eindeutig irgendeinem Tätermilieu zuzuschreiben“, hieß es am Wochenende in Sicherheitskreisen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste