Behindertenbeauftragte über Sonderschulen: "Formulierungen wie in der NS-Zeit"
Kinder auszusortieren, weil sie einen Hüftschaden haben oder an Down-Syndrom leiden: Schluss damit, sagt die Behindertenbeauftragte Evers-Meyer und fordert eine radikale Schulreform.
taz: Frau Evers-Meyer, wann wird es in Deutschland keine Sonderschulen mehr geben?
Die SPD-Politikerin ist Behindertenbeauftragte der Regierung. Sie kämpft für den gemeinsamen Unterricht aller, wie ihn die UN-Behindertenkonvention verlangt.
Karin Evers-Meyer: Ich hoffe, dass wir eines Tages so weit sein werden. Aber wann genau das sein wird, weiß ich nicht.
Kann ein geistig behindertes Kind aufs Gymnasium gehen?
Natürlich. Nehmen Sie etwa Kinder mit Down-Syndrom. Die sind zu Leistungen fähig, die man ihnen lange nicht zugetraut hatte. In Spanien ist gerade ein Mann mit Down-Syndrom Lehrer geworden. Sie können natürlich nicht jedem geistig Behinderten zum Abitur verhelfen. Aber es ist doch wichtig, dass sie in ihrer Entwicklung weiterkommen. Und das gelingt besser, wenn sie nicht nur unter ihresgleichen in einem vermeintlichen Schonraum lernen.
Geht das auch bei noch schwereren Behinderungen?
Ich wehre mich dagegen, zu sagen: Diese oder jene Kinder können nicht in die Regelschule gehen. Denn ich habe gelernt, dass es dafür keine Regel gibt. Ich kenne Kinder mit Luftröhrenschnitt, die eine normale Schule besuchen. Auch schwere Spastiker können die Regelschule besuchen. Die brauchen dann eben einen Assistenten, der mit im Unterricht dabei ist. Es geht.
Alle Kinder können also normale Schulen besuchen?
Wir müssen aufhören, auszusortieren. Es kann nicht sein, dass im Schulbehörden-Deutsch oftmals noch von Einweisung behinderter Kinder in eine Sonderschule gesprochen wird. Das sind Formulierungen, wie sie in der NS-Zeit verwendet wurden.
Es gibt Eltern, die eine Förderschule für ihr Kind explizit wollen, als Schonraum. Was sagen Sie diesen Eltern?
Väter und Mütter sollten wählen können, welche Schulen ihre Kinder besuchen. Aber ich erlebe immer wieder, dass Eltern ihr Kind in eine Förderschule schicken, nur weil es einen Hüftschaden hat oder schielt.
Einige bildungsbürgerliche Eltern wollen hingegen vermeiden, dass behinderte Schüler mit ihren Kindern lernen …
… die denken, eine Behinderung sei ansteckend. Aber da kann ich beruhigen: Sie ist es nicht.
Das Vorurteil vieler ist: Der Behinderte im Klassenzimmer ist schuld daran, dass mein Kind weniger lernt.
Das Gegenteil ist ja richtig. Individuelle Förderung, und zwar vom Kindergarten an, tut allen Kindern gut.
Das klingt gut. Doch für individuellen Unterricht brauchen die Schulen auch Personal.
Integration funktioniert natürlich nicht mit nur einem Lehrer, der sich um 30 Schüler kümmert, von denen drei verhaltensauffällig sind, zwei Down-Syndrom haben und eins blind ist.
Was müsste konkret passieren?
Bisher werden die Kinder kilometerweit in Fördereinrichtungen gekarrt - in Zukunft muss das umgekehrt sein.
Die Sonderpädagogen müssen an die normalen Schulen gekarrt werden?
So ist es. Und dort müssen dann die Rahmenbedingungen stimmen: kleine Klassen, in denen zwei Lehrer unterrichten.
400.000 Schüler und Schülerinnen werden heute auf Sonderschulen geschickt. Diese zu schließen und die Kinder an normale Schulen zu bringen - das kostet Geld. Woher soll das in der Krise kommen?
Das Geld ist ja schon im Schulsystem. Allein in meinem Landkreis gibt es eine Schule für Verhaltensauffällige, eine für geistig Behinderte und eine für Körperbehinderte. Diese Schulen mit den Regelschulen zusammenzulegen kostet vielleicht am Anfang etwas Geld. Danach kostet es nicht mehr als bisher.
Laut einer aktuellen Studie könnten bis 2020 alle Sonderschulen aufgelöst werden. Das würde aber jährlich bis zu 4,3 Milliarden Euro kosten. Noch mal: Woher soll das kommen?
Es geht doch nicht darum, den behinderten Menschen einen Gefallen zu tun, sondern ihnen die Menschenrechte zuzugestehen.
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