Begehung Fast jeden Urlauber an der Nordseeküste zieht es irgendwann ins Watt. Doch was ist daran so faszinierend?: Auf dem Meeresgrund
Aus dem Watt Esther Geißlinger
Im Zentrum jeder Wattwanderung steht der Wurm. Der Begegnung mit dem Wurm muss sein. Watt ohne Wurm, das wäre wie Berg ohne Aussicht.
Mit einigen Spatenstichen gräbt Theo Schlicht ein Loch in den weichen Boden, zieht einen Wurm heraus und hält ihn auf der ausgestreckten Handfläche in die Luft. Das Tier, gut zehn Zentimeter lang, ringelt sich zusammen, tastet mit blinder Vorsicht um sich, zieht den rötlich-bräunlichen Leib zusammen, liegt schließlich ruhig – wer weiß, vielleicht kennt es die Prozedur schon. In der Hochsaison, so dicht vor St. Peter-Ording, ist vermutlich jeder einzelne Wattwurm schon einmal ausgegraben und von einer sandigen Hand zur nächsten gereicht worden.
Arenicola marina, der Schwerarbeiter des Watts, dient heute im ehrenamtlichen Einsatz für die Tourismuszentrale und als stummer Gehilfe von Wattführer Theo Schlicht. Der reicht den ersten Wurm an ein Kind in der Urlauberschar weiter und holt mit Spaten und bloßen Händen die nächsten Tiere aus der Tiefe. Wer sich ekelt, muss keinen Wurm anfassen, aber gucken sollen alle. Schlicht erklärt, wie der Wurm den Boden umwälzt und durch seinen Körper filtert, wie bedeutsam diese Arbeit für die Durchlüftung des Watts ist. Als alle „Iiihs“ und „Aaahs“ ausgestoßen und alle Fotos gemacht sind, werden die Würmer entlassen und bohren sich in den Boden – bis die nächste Führung vorbeikommt und Theo Schlicht oder ein Kollege wieder mit dem Spaten auf die Jagd geht.
Wattwanderung: Die Luft riecht nach Salz, die Füße sinken im Schlick ein. Es quatscht zwischen den Zehen, und jeder Schritt hinterlässt einen tiefen Abdruck, der sich erst mit Wasser, dann mit Modder füllt und wenig später schon wieder unkenntlich wird. Das Watt ist immer gleich und immer im Wandel, und wer sich hier bewegt, tut gut daran, diese Lektion zu lernen.
„Achtung, da wird es rutschig!“, sagt Theo Schlicht. „Nicht aneinander festhalten, es reicht, wenn einer im Matsch liegt!“ Vorsichtig wie auf einer Eisbahn passiert die Gruppe die Rutsch-Stelle. Dann folgt ein Priel, einer der Wasserläufe, die das Watt selbst bei hoher Ebbe durchziehen. Die Unterwasserflüsse fließen in festen Betten, und an ihren Rändern liegen Schicht auf Schicht zerbrochene Muschelschalen: Die Möwen halten Festmahl in den Stunden, in denen der Grund trocken fällt und die Muschelbänke aufsteigen wie ein eigens für die Vogelwelt angerichtetes Buffet. Und dann kehrt das Meer zurück, so langsam und unabänderlich, wie es zuvor gegangen ist.
Praktisch jeder, der Urlaub an der Küste macht, will irgendwann ins Watt. Viele in der Gruppe, die Theo Schlicht durch den Modder vor St. Peter folgt, erinnern sich an Wanderungen aus ihrer Kindheit, jetzt sind sie mit ihren eigenen Kindern hier. Dabei könnte es durchaus langweilig sein: unten braun, oben Himmel. Auch wenn das Watt zu den am dichtesten mit Leben durchsetzten Flecken Erde überhaupt gehört, ist davon wenig zu sehen. Nur einige Exemplare von Larus fuscus, der weiß-schwarzen Heringsmöwe mit dem gelben Fleck am Schnabel, schaukeln im flachen Wasser der leer gelaufenen Priele, Haematopus, der Austernfischer, eilt mit wippenden Schwanz am Flutsaum entlang. Unter den Füßen kräuseln sich die Sandhäufchen, die auf versteckte Würmer hindeuten.
Die Faszination am Spaziergang im Matsch ist das schiere Wissen darum, auf dem Meeresgrund zu laufen, auf einer Höhe mit Muscheln, Krebsen und anderem verstecktem Getier. Und natürlich der Grusel der Gefahr.
„So drei bis fünf Leute saufen jedes Jahr ab“, sagt Schlicht. „Aber wir Einheimischen sagen immer: Sind bloß Urlauber, die kommen nach.“ Der eine oder andere in der Schar schluckt, aber Schlicht grinst nur und legt nach. Er erklärt, wie schnell es geht, dass ein Unkundiger sich im Watt verläuft, weil auf einmal der Rückweg zum Ufer durch einen reißenden Strom, einen Priel, abgeschnitten ist, der beim Hinweg nur ein dünnes Rinnsal war. Es geht dem gebürtigen St. Peteraner darum, den Leuten Respekt vor dem Watt einzuflößen: „Die sollen Angst kriegen und sich vorsehen.“
Bei seiner Führung kann nichts passieren: Das Ufer ist nahe, außerdem herrscht Ebbe. Solange das Wasser abfließt, ist es gefahrlos, das Watt zu betreten. Doch diese Zeiten sind kurz, daher sind an diesem Sommertag nicht nur eine, sondern zwei, drei, vier Gruppen unterwegs, die sich auf der Fläche verteilen. Eigentlich sollte Theo Schlicht an diesem Tag gar keine Führung übernehmen. Sein Kollege telefonierte ihn eilig herbei, als abzusehen war, dass mehr Feriengäste als gedacht ins Watt starten wollten.
Schlicht, 54, ist im Hauptberuf Gerätewart in der Turnhalle einer örtlichen Schule, aber er meint, dass er den Urlaubern mehr über das Watt erzählen kann als „so ein Biologiestudent aus München“, wie sie von der Schutzstation Wattenmeer eingesetzt werden. Ob ein Gast bei den Profis der Schutzstation oder einem einheimischen Führer landet, ist zumindest an den Tagen der Hochsaison ein wenig Zufall – Treffpunkt für die einen wie die anderen ist einer der Pfahlbauten am Strand, die typisch sind für St. Peter-Ording.
Auch Schlicht ist typisch St. Peter, typisch Norddeutscher – nicht von der mundfaulen Sorte, sondern eher der Seefahrertyp, mit trockenem Humor und spottlustig. Statt über Naturschutz, Plastik im Meer und Öl in Vögelmägen erzählt Schlicht lieber davon, wie sich aus dem Watt eine Mahlzeit zaubern lässt, mit der Urzeitpflanze Queller als Salat, Krebsen und Algen. Und dass das Watt für die Haut besser sei als jede teure Creme: „Reiben Sie sich ruhig ein – drüben im Kurhaus müssen Sie dafür zahlen.“
Am Ende der Tour ist die Gruppe wieder an den Pfahlbauten angelangt. Schlicht lässt den Hut herumgehen – fünf Euro ist der übliche Preis für die geführte Runde durch den Schlick, die meisten Urlauber legen noch ein Trinkgeld drauf. Die Runde hat sich gelohnt für Theo Schlicht, der wie viele im Küstenort gleich mehrfach am Tourismus verdient: Er vermietet auch Ferienwohnungen.
Also ein Nutznießer des Nationalparks? Schlicht bläst die Wangen auf: „St. Peter hat seit 1860 Tourismus.“ Will sagen: Das Geschäft würde auch ohne den Park laufen. Es ist der alte Widerborst der Einheimischen gegen den Park, der auch nach 30 Jahren nicht ganz ausgeräumt ist.
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