Bayerischer Arzt wird libyscher Botschafter: Kleine Ideen für große Veränderungen

"Die Menschen haben Diktaturen wirklich satt", sagt Aly al Kothany. Der in Bayern praktizierende Arzt wird libyscher Botschafter in Berlin.

Leise - aber beharrlich: Libyens neuer Botschafter Aly al Kothany. Bild: Marc Thöner

BERLIN taz | "Dr. Aly al Kothany. Können Sie mir auch ein Ticket reservieren?" Die Stimme am Telefon spricht sehr leise, akzentuiert, aber dafür überdeutlich - das muss er sein, der Reisegefährte. Wir schreiben Mai 2011 - Kontaktleute der deutsch-libyschen Gemeinde in Berlin hatten angeboten, eine Reise nach Ostlibyen organisieren zu helfen: Der Reporter will etwas über neue Entwicklungen vor Ort erfahren. Und ein deutsch-libyscher Arzt aus Bayern, sagen die Berliner, würde sich gern anschließen.

Drei Tage später sitzen wir auf der Ladefläche eines klapprigen Pick-up. Dr. Aly ist schlank, mittelgroß, graues Haar, Brille, Karo-Jackett und dazu, den etwas verwegenen Reiseumständen geschuldet, Jeans und Turnschuhe. Er ist von einer leisen, unerschütterlichen Höflichkeit. Ein guter Zuhörer. Der Arzt, der einen krankschreibt.

Während wir durchs Niemandsland zwischen ägyptischen Grenzposten Sallum und Libyen holpern, schlucken wir Staub, klammern uns an unserem Gepäck fest, und Dr. Aly erzählt, was ihn, den arrivierten Arzt mit einer Existenz in Deutschland und einer Privatklinik in Tobruk, in die Opposition trieb: "Gaddafi bezeichnete sich als Antikolonialisten, benahm sich aber selber so, als ob er das Land kolonisierte. Die Söhne kamen manchmal durch unsere Gegend. Aber nie suchten sie Kontakt zu unserer Bevölkerung, sondern fuhren weiter Richtung Meer, luden Frauen aus der ganzen Welt auf ihre Yachten ein und feierten."

Nach den entnervenden Grenzformalitäten und einer langen Fahrt im Mietauto taucht Tobruk auf. Zuerst das Meer, dann die Sicht auf beigefarbene Häuser, lange Kolonnaden, leere Denkmalsockel, auf denen sich Gaddafis "Grünes Buch" vor Kurzem noch überdimensional erhob.

Äußerlich wirkt das mehrstöckige Gebäude, in das er führt, wie eines jener gesichtslosen beigefarbenen Neubauten in der gleichen Straßenzeile. Doch hinter den Türen öffnet sich Kothanys Privatklinik, alles neu, alles vom Feinsten. Der Eigentümer drückt Lichtschalter, eilt voran, fährt den Strom hoch und lässt eine schlafende Welt aufleben: neben dem Wartezimmer der Fitnessbereich für übergewichtige libysche Mütter. Daneben die Spielecke für ihre Kinder.

"Wann haben Sie zum letzten Mal gelacht?"

Jahrelang hat der Arzt in Libyen und Deutschland praktiziert, Menschen, Persönlichkeiten, Lebensgeschichten verglichen. Arabische Frauen, erläutert er, verlangen oft lebenslange Dankbarkeit und Unterordnung dafür, ihre Kinder ausgetragen zu haben. Andererseits hätscheln sie Muttersöhnchen heran, die ihren Narzissmus, ihre Selbstbezogenheit, ihre Taubheit für Kritik nie mehr loswerden. Nicht selten erwarten arbeitslose junge Männer von ihren Müttern, sie nach der Geburt auch weiter zu ernähren, für ihren Unterhalt zu sorgen, manchmal auch für den von Freunden und Bekannten: Putzen, Kochen, Unterbringen, Taschengeld. Mütter entwickeln psychosomatische Störungen oder eingebildete Krankheiten. "Patientinnen mit einem solchen Hintergrund höre ich zu. Und dann unterbreche ich sie: Vergessen Sie doch mal Ihren Sohn für einen Moment lang. Wann haben Sie zum letzten Mal gelacht? Das bringt sie darauf, sich auch mal mit sich selbst zu beschäftigen." Die Fitnessecke kann dabei helfen.

Aly al Kothany, geboren 1945 in Burdi, Kreis Tobruk, kam nach seinem Abitur als Stipendiat zum Medizinstudium nach Heidelberg. 1971 legte er sein Staatsexamen ab, 1972 wurde er promoviert. Nachdem er seinen Facharzt der Inneren Medizin sowie der Sport- und Sozialmedizin machte, kehrte Kothany 1989 nach Tobruk zurück und baute ein Ärztehaus auf.

2008 kehrte er nach Deutschland zurück, da er nach regimekritischen Äußerungen vom Geheimdienst bespitzelt wurde, was ihm das Arbeiten als Arzt unmöglich gemacht hatte, wie er selbst sagt. Seit 2011 praktizierte er als praktischer Arzt im bayerischen Kronach, bis er zum libyschen Botschafter ernannt wurde. Kothany ist verheiratet und hat drei Kinder.

Kleine Ideen. Kothany betrachtet sie als Vorreiter für große Veränderungen. Im Gästetrakt der Klinik, unter einer mosaikverzierten Kuppel, spricht er über Demokratie. Ein Mythos ist es in seinen Augen, dass die Araber dazu nicht fähig seien. Die libysche Stammesgesellschaft verfügt in seinen Augen über Traditionen, die sich, etwas modernisiert, zur Basis dafür machen lassen. Ein Stammeschef kann nicht nach Gutsherrenart entscheiden. Er selbst wird per Konsens gewählt und kann sich nur durchsetzen, indem er ständig diskutiert, Allianzen schmiedet, überzeugt. Kein Parlamentarismus, aber eine Basis für Entwicklungen.

"Die Menschen hier haben die Diktaturen wirklich satt, den Personenkult, die ewigen Feindbilder, Paraden, Waffenschauen. Wir sehen, dass in Europa eine ungeheuere Leistung vollbracht wurde. Innerhalb weniger Jahre ist es gelungen, Völker, die als Erbfeinde galten, zusammenzuführen, dauernden Frieden herzustellen. Ich finde das großartig, eine Errungenschaft der Menschheit, die ich moralisch gleich hinter die großen Religionen stelle."

Jetzt kommt es aus seiner Sicht darauf an, sich gegenseitig mit Respekt zu behandeln. Und eine westliche Bevormundung zu vermeiden, wie im Fall Afghanistans: "Jeder hat wirtschaftliche Interessen, aber sich einen korrupten Clanchef heraussuchen und mit ihm zusammenarbeiten, das darf bei uns nicht passieren. Es geht nicht, dass eine Seite die andere von der Entwicklung abhält und ausnutzt."

Euro-arabische Visionen

Auf der langen Tour Richtung Bengasi lässt sich viel nachdenken, über die Beharrungskräfte etwa, an denen sich Kothanys euro-arabische Visionen stoßen dürften: Demokratie auch für die Araber, schön und gut, so hatte etwa er gemeint, der junge Beamte der politischen Abteilung der deutschen Botschaft Kairo - nach dem Abzug aus Tripolis beobachtete man von dort aus die Entwicklung im Nachbarland genau. Andererseits, so war er fortgefahren, sei Libyen bei allem, was sich einwenden lasse, immerhin stabil gewesen. "Bei den alten Machthabern wusste man wenigstens, wer sie waren. Aber wer befiehlt eigentlich bei den neuen? Wo ist da eigentlich die Kommandokette?"

Auch die höchst einflussreiche Interessenvertretung der deutschen Libyen-Unternehmer, der Hamburger Afrikaverein, war im März von der Revolution keinesfalls amused. "Die Libyer waren doch zufrieden mit dem Mehrwert, den sie im Vergleich zu anderen Maghrebstaaten hatten? Unsere Klienten wissen nicht mehr, wo die richtige Seite ist und mit wem sie Verträge abschließen sollen, die Hafenanlagen sind auch blockiert …" Links verwurzelte deutsche Intellektuelle wiederum schienen die Vorgänge ebenso lästig zu finden: Was wollten die Leute da unten eigentlich? Lebten sie nicht in dem Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas, unter einem Staatschef, der sich gegen den Kolonialismus engagierte?

Beharrungskräfte gibt es, wie sich bei gemeinsamen Gesprächen in Bengasi herausstellt, auch beim Übergangsrat. Da ist Salwa Boughaigis, Abgeordnete für die Rebellenhochburg, die Sarkozy und Frankreich in den Himmel hebt. Deutschland hingegen habe dem neuen Libyen nicht helfen wollen, de facto sei die deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat eine Unterstützung für Gaddafi gewesen. "Das werden wir niemals vergessen. Frankreich, nicht Deutschland hat wirtschaftlich gesehen die Priorität."

Andere, wie die übergelaufenen Generäle auf einer großen Armeebasis, sehen das pragmatischer. Viel pragmatischer: Herzlich willkommen! Was kann Deutschland anbieten: Panzer? Nachtsichtgeräte? Kugelsichere Westen? Oder will Berlin helfen, dass sich die libyschen Truppen in eine kleine, aber professionelle Armee verwandelt, deren Taktik und Selbstverständnis sich an denen in Europa orientiert?

Den Gegenüber in den Dialog zwingen

Kothany antichambriert überall, erklärt, entschärft, führt zusammen. Er spricht stets leise akzentuiert, auch wenn das Gegenüber schreit, mit den Armen fuchtelt. Seine Art ist dazu angetan, das Gegenüber zu entemotionalisieren, zu entkrampfen, in den Dialog zu zwingen. Der Afrikaverein der deutschen Wirtschaft lässt sich am frühesten überzeugen. Öl in Ostlibyen. Endlich ein Verbindungsbüro, wie die Engländer und Franzosen.

Kothany organisiert Bundesaußenminister Westerwelles erste Reise mit, bereitet die Eröffnung des deutschen Verbindungsbüros in Bengasi vor. Dann Ende August die Nachricht: "Ein Arzt aus Hof in Bayern" ist zum libyschen Botschafter in Deutschland ernannt. Dem Reporter, der das im Radio hört, kommt die Erinnerung an die gemeinsame Reise. Insbesondere aber an eine Szene: Kothany im Gespräch mit den Generälen. Ältere Herren, korrekt gekleidet, die allesamt nichts Umstürzlerisches haben. Revolutionäre der zweiten und der dritten Stunde. Arrivierte, die sich rechtzeitig entschieden haben, den Träumen ihrer Jugend Rechnung zu tragen. Ist das wenig? Es kann viel sein.

"Die Morgenfrische einer zukünftigen Welt berauschte uns", schreibt T. E. Lawrence über den von ihm entfesselten arabischen Aufstand, "doch als wir siegten und die neue Welt dämmerte, da kamen wieder die alten Männer und nahmen unseren Sieg, um ihn der früheren Welt anzupassen, die sie schon kannten." Bei Kothanys Welt könnte sich das lohnen.

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