Bauteilbörse: Graue Energie in großen Mengen
Die Bauteilbörse hat ihre 10.000 Artikelnummer - und noch immer viel zu wenig Nachahmer. Dabei ist die Idee genial, günstig und geschichtsbewusst.
Artikelnummer 10.000 ist kein herrliches Holzfenster mit original Bremer Strange. Kein Roland in Bleiglas, keine gusseiserne Wanne auf Löwenfüßen. Sondern ein popeliges Waschbecken. Anders ausgedrückt: „Ein feines, platzsparendes Waschbecken des Markenherstellers Villeroy & Bosch, mit Kaltwasser-Armatur, ideal fürs enge Bad.“ Am PR-Geschick der Bremer Bauteilbörse kann es nicht liegen, dass das vor neun Jahren gegründete Modellprojekt nicht täglich von den Nutzerscharen überrannt wird, die es verdient.
Auch nicht am Geschäftsmodell. Denn das ist so nahe liegend, wie es genialen Dingen oft zu eigen ist – und trotzdem gibt es in Deutschland erst acht Börsen. Als zwei Bremer Architektinnen vor neun Jahren begannen, systematisch verwertbare Teile aus Umbau- oder Abrisshäusern auszubauen, waren sie damit bundesweit die einzigen. Mittlerweile hat das Ökoinstitut Freiburg akribisch evaluiert, welche CO2-Mengen beziehungsweise die in Bauteilen steckende „graue Energie“ die Wiederverwertung eingespart. Das Jubiläums-Waschbecken bringt es auf fünf Kilo CO2, ein Holzfenster, je nach Gewicht, auf etwa 80, das Recycling einer Badewanne kann 130 Kilo des klimaschädigenden Gases vermeiden. Die Nachnutzung von Türen und Fenstern, wie sie kürzlich beim Umbau eines Grambker Privathauses anfielen, entsprechen der durchschnittlichen Emission von 13.770 PKW-Kilometern. Oder dem jährlichen Stromverbrauch von sechs Single-Haushalten.
„90 Prozent der Dinge, die wir verwerten, würden sonst auf dem Müll landen“, sagt die Architektin Andrea Weiß, eine der BörsianerInnen. Die Arbeitskette zwischen Gebäude-Akquise, Teile ausbauen, säubern und zum Verkauf einstellen erledigen sechs Menschen in Teilzeit. Seit 2003 sind geschätzt 15.000 Bauteile durch ihre Hände gegangen – hinter den Artikelnummern stehen oft mehrere Objekte. Durchschnittlich ein Jahr vergeht bis zum Verkauf. „Das bleibt ein ganz schweres Geschäft“, sagt Börsen-Gründerin Karin Strohmeier. Sowohl ökonomisch als auch physisch: Bei einem Durchschnittsgewicht der Bauteile von 15 Kilo macht das 225.000 Kilo, die das Team bereits bewegt hat.
Die Bauteilbörse ist dabei nicht nur ein ökologisch-ökonomisches Korrektiv in Bezug auf Gebrauchtteile, sie verwertet auch die Fehlmaße ehrbarer Tischlermeister – die offenbar gar nicht mal so selten vorkommen. Jedenfalls findet sich durchaus auch Neuware in der Gröpelinger Lagerhalle. „Anfangs hieß es: Was ihr verkaufen wollt, taugt allenfalls für die Parzelle“, sagt Strohmeier. Heute kommen Edelaltbau-Besitzer, um ausgesuchte Stilelemente zu finden, ebenso wie Oslebshauser auf der Suche nach günstigen Kunststoff-Fenstern – das Kundenprofil changiert zwischen günstig und geschichtsbewusst.
Doch obwohl der Zeitgeist, nach der Retro-Welle schon beim Schäbi-Schick angekommenen, für die Börse arbeitet, ist deren Situation laut Strohmeier „nicht stabil“. Senatoren in Journalistenbegleitung besuchen die Börse zwar gern. Konkrete Unterstützung sei seltener: „Über ,Immobilien Bremen‘ kriegen wir nur wenige Hinweise auf verwertbare Altbestände“, sagt Weiß. In den Niederlanden, wo jede Stadt eine Börse hat, gibt es hingegen eine gesetzliche Anzeigepflicht bei Abrissen – samt Listung der ausbaubaren Teile.
Zwei Jahre gab es eine Anschubfinanzierung durch die Wirtschaftsförderung, seither muss sich die Börse selbst tragen. Was hat sich noch verändert? Der Preis für Zimmertüren ist doppelt so hoch wie zu Anfang, großformatige, liegende Fenster hingegen baut die Börse gar nicht mehr aus. „Wir wissen jetzt besser, was gefragt ist“, sagt Weiß. Farbige Sanitärartikel beispielsweise, sagt Strohmeier: „Wenn jetzt die jungen Kreativen kommen, die lindgrüne Waschbecken toll finden, merkt man sein eigenes Alter.“
Das Internet-Geschäft spielt eine wesentlich kleinere Rolle als ursprünglich erwartet. Sowohl in Bezug auf die dort generierten Werbeeinnahmen als auch die Möglichkeit, die Site als allgemeinen Marktplatz zu nutzen, in den auch Außenstehenden ihre Angebote einspeisen. Nichtsdestoweniger ist die hervorragend ausgebaute Web-Präsenz mit virtuellem Lagerrundgang und Vorher/Nachher-Rubrik ein wichtiger Baustein des Börsen-Konzepts: Sämtliche Artikel sind mit Fotos und Detailinfos eingestellt.
„Es soll keine bösen Überraschungen geben“, erklärt Weiß. Und man erfährt den individuellen Background seines künftigen Waschbeckens. Nummer 10.000 zum Beispiel wurde von einer Stammkundin persönlich vorbeigebracht, die ihr Häuschen in der Neustadt renoviert. Der zugehörige Spiegel wurde trotz allem als „zu hässlich“ deklariert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana