Barrierefreie Wahllokale in Berlin: Kreuzchen mit Hindernissen
Wählen ist ein Grundrecht, barrierefrei geht es trotzdem nicht immer. Dieses Jahr sogar noch weniger als sonst. Schuld ist Corona.
Das Problem ist nicht neu; auch bei den bisherigen Wahlen waren nicht alle Wahllokale barrierefrei. Aber im Vergleich zu Wahlen vergangener Jahre gibt es diesen September weniger barrierefreie Wahllokale. In einigen Bezirken sogar deutlich weniger.
Hatte zum Beispiel Spandau laut einem Sprecher vom Bezirk bei der letzten Bundestagswahl 90 Prozent barrierefreie Wahllokale, so sind es in diesem Jahr 78 Prozent. Das schließt bereits die Räumlichkeiten ein, die „mit Hilfsperson“ als barrierefrei gelten – da kann es eine Stufe geben oder eine steilere Rampe als bei komplett barrierefreien Orten.
Das liegt – wie so vieles derzeit – zu einem großen Teil an Corona. „Pandemiebedingt sind einige barrierefreie Räume in Gebäude und Einrichtungen, wie etwa Seniorenwohnheime, weggefallen“, sagt ein Sprecher des Bezirks Tempelhof-Schöneberg. „Dies hat entweder mit zu geringen Raumgrößen oder dem Ausschluss der Nutzung der Wahllokale in Alten- und Pflegeeinrichtungen zu tun“, heißt es aus Pankow.
Denn gerade Seniorenheime wollen in Pandemiezeiten nicht unzählige Menschen durch ihre Räumlichkeiten schleusen. Zehn Wahllokale sind daher zum Beispiel auch in Charlottenburg-Wilmersdorf weggefallen.
Man braucht Platz wegen der Pandemie
Mit Mobilitätseinschränkung Wer sich im Vorfeld darum kümmert, kann in jedem Fall barrierefrei wählen. Die Barrierefreiheit ist auf der Wahlbenachrichtigung angegeben. Ist das eigene Wahllokal nicht barrierefrei, kann man einen Wahlschein für ein anderes Wahllokal beantragen. Am Wahltag spontan ein anderes Lokal aufzusuchen ist nicht möglich.
Mit Sehbehinderung Das geht seit 2002 mit einer Pappschablone, in die man den Wahlzettel legt. Da, wo man sein Kreuzchen macht, sind hervorgehobene, nummerierte Löcher. Eine Stimme auf einer Audio-CD liest vor, was in der Zeile zur jeweiligen Nummer steht. CD und Schablone verteilt der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin auf Anfrage. (cpm)
Eine Sprecherin des Bezirks Steglitz-Zehlendorf erklärt den Bedarf für mehr Platz: „So muss beispielsweise in Schulen darauf geachtet werden, dass im Idealfall das „Einbahnstrassen-Wegesystem“ zur Vermeidung von Kontakten möglich ist, beziehungsweise dass auf jeden Fall die notwendigen Abstände noch eingehalten werden können“, sagt sie.
Mindestabstände, lüften – man braucht also wegen Corona mehr und größere Räume. Zu allem Überfluss ist die Wahl in diesem Jahr besonders umfangreich: Bund, Land und Volksentscheid führen dazu, dass Berlin mehr Wahllokale braucht. Die müssen die Bezirke auftreiben. Dafür gehen Mitarbeiter*innen des Bezirks auf potenzielle Wahllokale zu, leisten Überzeugungsarbeit und verhandeln. Aber nur Reinickendorf hat es geschafft, ausnahmslos barrierefreie Wahllokale einzurichten.
Dass dies den anderen nicht gelungen ist, dafür hat Dominik Peter kein Verständnis. Er ist Vorsitzender des Berliner Behindertenverbands. „Da müssen sich die Bezirke eben mal auf die Hinterbeine stellen“, fordert er. „Das ist Manpower, die man investieren müsste“, entweder um beispielsweise Rampen zu installieren. Oder um eben doch Räume zu finden, die von sich aus barrierefrei sind.
Sein eigenes Wahllokal sei barrierefrei, aber er habe schon oft per Briefwahl gewählt, sagt Peter. Allgemein schätzt er, dass unter Menschen mit Behinderung der Anteil an Briefwähler*innen höher ist als unter Menschen ohne Behinderung. Aber: „Jeder sollte in einer Demokratie in ein Wahllokal gehen können.“
Briefwahl in leichter Sprache erklären
Wer schon mal per Brief gewählt hat, weiß: Die Briefwahl hat ihre Tücken. Man muss alles in die richtigen Umschläge packen, was bei der Dreifach-Wahl in diesem Jahr nicht einfacher werden dürfte. Da tun sich Menschen ohne Behinderung genauso schwer wie mit kognitiven Behinderungen. Der Berliner Behindertenverband hat deswegen schon bei der letzten Wahl eine Broschüre an seine Mitglieder verschickt, die den Briefwahlprozess in leichter Sprache erklärt.
Dominik Peter wünscht sich, dass ähnliche Erklärungen direkt mit den Briefwahlunterlagen verschickt werden: „Ein Begleitschreiben in leichter Sprache mit schönen Bildern. Da würden sich die Leute, die leichte Sprache nutzen, nicht ausgeschlossen fühlen.“ Ganz zu schweigen davon, dass auch zum Beispiel Erstwähler*innen oder Briefwahlneulinge davon profitieren könnten.
Leichte Sprache ist gerade vor dem Hintergrund eines neuen Urteils entscheidend: Das Bundesverfassungsgericht hatte es vor rund zwei Jahren für verfassungswidrig erklärt, dass Menschen, die voll betreut werden, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das betrifft in ganz Deutschland rund 81.000 Menschen. Für die Europawahl kam das Urteil sehr knapp, die Betroffenen mussten extra einen Antrag stellen um zu wählen.
Barrierefreiheit für viele
Bei der anstehenden Wahl können sie nun zum ersten Mal regulär wählen. Die umfangreiche Wahl macht dieses Jahr auch das Wählen für sehbehinderte und blinde Menschen komplizierter. So stehe für den Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin dadurch mehr Arbeit an, erklärt die Geschäftsführerin Dr. Verena Staats: Zunächst drohten die Wahlschablonen (siehe Kasten) angesichts der vielen Kandidat*innen zu klein zu werden, nun müssen die Informationen für Wahlen zu Bund, Land und Volksentscheid alle eingesprochen und auf genug CDs vervielfältigt werden.
„Da die Unterlagen möglichst zeitnah zum Versand der Wahlbenachrichtigungen bei den Betroffenen eingehen sollten, dürfte das für unsere Mitarbeitenden wohl die eine oder andere Sonderschicht bedeuten“, sagt sie.
Barrierefreiheit mit all ihren Ausprägungen nutze dabei vielen, etwa auch Senior*innen, betont Kathrin Geyer, Vorsitzende des Landesbeirats für Menschen mit Behinderung: „Barrierefreiheit in allen Formen schadet niemandem, nützt aber vielen.“
Die Chance auf volle Barrierefreiheit beim Wählen verpassen elf der zwölf Bezirke dieses Jahr erneut. Für die Inklusion markieren die Wahlen damit einen Rüschschritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren