: Bange Blicke zurück
Die Grenzen des Kosovo sind zu. Wer es noch herüber geschafft hat, sorgt sich um die Zurückgebliebenen ■ Aus Kukes Erich Rathfelder
In Kukäs, der Grenzstation Albaniens zum Kosovo, machen Grenzwachen und humanitäre Helfer angesichts des Regens und Windes mürrische Gesichter. Hier strömten noch am Mittwoch Zehntausende von Menschen über die Grenze. Sie kamen aus Przren, Djakova und Peć. Jetzt haben die Serben die Grenze dichtgemacht, haben nach Angaben von Flüchtlingen Minen verlegt, Maschinengewehrnester aufgebaut und alle zurückgebracht, die noch über die Grenze nach Albanien fliehen wollten.
Auch die albanische Armee hat Position bezogen. Die alten, wie Fliegenpilze aus dem Boden wachsenden Einmannbunker sind seit kurzem wieder mit Soldaten besetzt. Einige Kilometer entfernt sind Artilleriegeschütze aufgebaut. Die bedrohliche Szenerie schreckt jedoch einige der Vertriebenen aus dem Kosovo nicht ab, an diesem Ort zu bleiben. Sie hoffen, daß doch noch einige Verwandte und Freunde, die im Getümmel der Flucht verlorengingen, herüberkommen können.
Einer der Wartenden ist Arsim Bytyqi. Er ist mit seiner alten Mutter in einem der Hilfszelte untergeschlüpft. Bytyqi hofft, daß sein Bruder mit Familie noch durchkommt. Ein anderer Bruder sei irgendwo in Albanien, eine Schwester in der Schweiz, erzählt er. „Dies ist meine zweite Flucht. Vor acht Monaten ist meine Familie aus dem Dorf Stundecan bei Przren vertrieben worden.“ Sie seien durch die Wälder geirrt, hätten schließlich eine Bleibe in einem anderen Dorf gefunden. Bis dort am 1. April die serbischen Soldaten auftauchten. „Die Häuser wurden niedergebrannt", erzählt Bytyqi. Davon berichtet auch Shuran Islamj aus dem Dorf Elesaj in der Nähe von Kacanik. Man habe ihn mit seiner Familie in einen Bus gesetzt und an die Grenze gebracht. „Haut ab nach Albanien“, hätten die serbischen Soldaten zum Abschied gerufen. „Ich konnte noch sehen, daß sie 20 junge Männer festgenommen haben.“
Ziaije Berisha, die aus derselben Gegend stammt, berichtet, daß fünf ihrer Söhne verhaftet worden seien. Wo sie jetzt sind, weiß sie nicht. Sie rechnet mit dem Schlimmsten. Einige der Umstehenden umarmen sie tröstend, dann gehen sie schweigend an ihre Arbeit. Die Flüchtlinge versuchen, im Lager Ordnung zu halten. Die Fußböden der Zelte werden geputzt, alte Menschen gepflegt, die Kinder betreut, so gut es geht. Die italienischen Soldaten bringen Lebensmittel, es gibt Kaffee. Langsam bricht das Eis, viele Leute beginnen nun zu erzählen. Vlora Dilhazi aus der Stadt Dakowa berichtet vom Schicksal ihres Onkels Ali Caka und seiner Familie, die alle getötet worden seien, 20 Menschen. Lediglich ein zehnjähriger Sohn konnte verwundet fliehen und sich zu ihr und anderen Verwandten durchschlagen. Jetzt ist der Junge in Tirana, eine Hilfsorganisation hat den Traumatisierten ins Krankenhaus gebracht. Mit bangen Blicken sehen jene zur Grenze hin, die noch immer Mitglieder der Familie in Kosovo haben. Über ihr Schicksal wissen sie nichts.
Die serbischen Soldaten gingen nach Plan und systematisch vor, erzählen die Flüchtlinge. Die Menschen würden vertrieben und ausgeraubt. Alles Gold werde gestohlen. Ein Mann sei vor der Grenze erschossen worden, weil er kein Geld mehr hatte, erzählt ein anderer. Andere schildern, wie die Moscheen ihrer Dörfer in Flammen aufgingen, wie das Denkmal der Liga von Przren gesprengt wurde, wie das historische Viertel von Djakova mit seiner 500 Jahre alten Moschee zerstört worden ist. Dort seien insgesamt 300 Menschen ermordet worden, sagt ein Mann, der seine Identität nicht preisgeben will. Er gehört offenbar zur albanischen Untergrundarmee UÇK.
Kraft zum Kämpfen hat Rexhep Zogaj nicht mehr. Der 50jährige Mann stammt aus einem Dorf bei Malishevo und irrt jetzt durch die Straßen der ihm unbekannten Stadt Kukäs, um etwas Eßbares aufzutreiben. Er ist verwirrt, seine Kleider sind voller Schmutz, seine Schuhe zerschlissen. Sein Dorf Belaniza habe aus 50 Familien bestanden, erzählt er. Alle Häuser seien jetzt verbrannt, 100 bis 150 Menschen wurden dort getötet, behauptet er. Wieder an dem Traktor angekommen, auf dessen Anhänger sein Vater sitzt, beginnt er still zu schluchzen. Seine Nachbarn seien mit Messern ermordet worden, sagt er schließlich, „zwölf Kinder und die Eltern. Man kann dies nicht mehr begreifen.“
Es hat zu regnen aufgehört. Die Straßen des 50.000 Einwohner zählenden Ortes Kukäs füllen sich wieder mit Menschen. Von den Häusern bröckelt der Putz, die Hauseingänge sind von Müll umgeben, die Menschen ärmlich gekleidet. Und dennoch sind es diese Menschen, die jetzt den Kosovaren am meisten helfen. Fast alle Familien im Lande haben Vertriebene aufgenommen, im ganzen Land, auch in Tirana oder im Süden. „Wir sind ein armes Land, aber wir werden es schaffen“, sagt ein albanischer Offizier. Ob sie für das Kovoso kämpfen, Krieg führen würden? „Wir Albaner sind jetzt so geschlossen wie nie zuvor.
An der Grenze soll es gestern nach OSZE-Berichten wieder zu Artilleriegefechten gekommen sein.
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