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Baltische Dynamiken

■ Eine Länderkunde über die Nationalbewegungen in Estland, Lettland und Litauen.

Eine Länderkunde über die Nationalbewegungen in Estland, Lettland und Litauen.

VONERHARDSTÖLTING

Die Unabhängigkeit der baltischen Staaten kam schließlich überraschend schnell. Das wirkte auf die politischen Argumentationen zurück. Bis dahin war Stalins Imperium— und seine Büttel — jener negative Bezugspunkt gewesen, den die Massenbewegungen zu ihrer Mobilisierung benötigten. Mit dem Zusammenbruch erschienen selbst die noch immer anwesenden ehemals sowjetischen Truppen eher lästig als bedrohlich. Als grundsätzliches Problem bleibt nur noch die Staatsbürgerschaft. Es wird hier zu einer Mischung von territorialem und völkischem Prinzip kommen.

Ansonsten geht es jetzt um handfeste Fragen des wirtschaftlichen und institutionellen Aufbaus; die Kompetenz von Juristen, Währungsspezialisten und Wirtschaftsingenieuren ist gefragt. Wie in allen ehemals sozialistischen Gesellschaften müssen Routinen verändert, Kenntnisse erweitert und Mentalitätsformen gefördert weden, ohne die eine kapitalistische Wirtschaft nicht funktioniert. Es gilt nicht nur funktionsfähige demokratische Strukturen zu schaffen, sondern auch jene Enttäuschungen aufzufangen, die sie hervorrufen werden. Die Erfahrung etwa, daß auch demokratisch gewählte Politiker käuflich, selbstsüchtig, verlogen und dumm sind, sollte nicht in diktatorische Sehnsüchte umschlagen.

Natürlich bringt die Abkoppelung vom ehemals sowjetischen Wirtschaftsraum Schwierigkeiten — die Sowjetrepubliken waren miteinander eng verklammert. Die Lösung dieser Verklammerung aber ist ein praktisches und kein prinzipielles Problem. Mangelnde Autarkie ist ebenfalls kein Hindernis. Wirtschaftlich autark sind nur sehr wenige Länder auf dieser Welt, in Mittel- und Westeuropa kein einziges. Ihre Reformprobleme teilen die baltischen zwar mit allen ehemals sozialistischen Ländern. Hier weckt aber ein Faktor besondere Aufmerksamkeit: die Kraft der Identitätskonstruktionen. Die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen hatten ihre Nationen als „europäisch“ — im Gegensatz zu einem fast barbarischen Osteuropa — definiert und einen bürgerlichen Geist unterstellt, der den raschen Aufbau funktionsfähiger Demokratie und Marktwirtschaft versprach. Diese Identitätskonstruktion wurde fest geglaubt und machte den Versuch einer entsprechenden gesellschaftlichen Veränderung aussichtsreicher gegenüber Gesellschaften mit einem weniger positiven Selbstbild. In diesem Zusammenhang stehen sicherlich auch die zitierenden Rückgriffe auf die mittelalterliche Hanse und andere deutsche Erinnerungen. Aber die Deutschen sind ja auch keine Bedrohung mehr, sieht man von den lauten DM-Touristen ab. In Litauen werden die polnischen Trümmer entsprechend weniger hervorgehoben.

Über diese regionalen Probleme gibt Klemens Ludwig in seiner— bereits in zweiter Auflage erschienenen — Länderkunde kompetent und umfassend Auskunft. Eine besondere Stärke des Buches ist die Darstellung der aktuellen Situation bzw. der Entwicklungen seit 1985. Daß Ludwig hinter den Entwicklungen herrennt, ist der geschichtlichen Beschleunigung geschuldet. Immerhin scheint das Tempo der Veränderungen jetzt abzunehmen.

Natürlich stößt eine nationalgeschichtliche Darstellung in diesem Raum auf Schwierigkeiten. Nach der Eroberung durch die Ordensritter und den Stadtgründungen existierten die einheimischen Völker für Jahrhunderte nur noch als geknechtete Bauern. Ludwig sieht hierin, seinem Ansatz entsprechend, nationale Unterdrückung. Das paßt zu den Fakten, das Interpretationsschema ist allerdings modern. Auch ohne sprachliche Differenz erscheinen die Bauern überall in Europa bis ins 16. Jahrhundert als stummes und geschundenes Natursubstrat der Geschichte. Erst in der Reformationszeit tauchen die baltischen Sprachen in schriftlicher Form auf, als die entstehenden Konfessionen im „Volk“ nach Anhängern fischen. Nach der politisch- religiösen Konsolidierung kehren die baltischen Sprachen für kurze Zeit in den schriftlosen Untergrund zurück. Das trifft selbst auf Litauen zu, das ein großes Reich gewesen war. Seine Bürokratien und geistlichen Literaten hatten weißrussisch, polnisch, lateinisch geschrieben. Auch hier griff erst die Religionspropaganda der Reformationszeit auf die Sprache der niederen Stände zurück. Endgültig zum politischen Faktor wurde die Bevölkerung und ihre Sprache mit den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts. Nun konnte der soziale Konflikt auch als nationaler identifiziert und erfolgreich ausgetragen werden. Die Entmachtung der Deutschen in Lettland und Estland, der Polen in Litauen war zugleich eine soziale Revolution, die den Modernisierungsschub der Zwischenkriegszeit einleitete.

Der Aufstieg des Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert war überall in Mittel- und Osteuropa durch die Romantik inspiriert worden. Verzückte Intellektuelle schrieben Nationalgeschichten. Sie sammelten Volksmärchen, Mythen und Lieder, in denen eine sich durch die Wechselfälle der Geschichte durchhaltende unvergängliche Substanz sichtbar werden sollte; auch die jetzigen Unabhängigkeitsbewegungen griffen intensiv auf Folklore zurück. Nationale Identität konnte auch durch den Rückbezug auf vorgeschichtliche Ursprünge konstruiert werden. Die in diesem Bande vorgestellte lettische Dievturiba-Bewegung etwa, die die nationale Identität in vorchristlichen Mythen sucht, entspricht den Germanen-Projektionen des deutschen Nationalismus. Aber natürlich sind die politischen Kontexte ganz andere.

Ludwig hält sich sehr strikt an die Perspektive der drei Nationalbewegungen. So erscheinen die Deutschen aus der lettischen oder estnischen Perspektive des jeweiligen Verhältnisses zu den baltischen Nationen. Aber die baltische Region hat für die deutsche Wissenschafts- und Literaturgeschichte doch auch eine eigene Bedeutung, die Esten und Letten kaum noch berührt. Sinngemäß das gleiche gilt für den polnischen Anteil der litauischen Geschichte bzw. die polnische Kulturgeschichte in Litauen. Auch daß die jüdische Welt fast gänzlich fehlt, weil sie für die litauische Nationalbewegung unwesentlich erscheint, ist schade. Der hohe Informationswert dieser Länderkunde ließe sich verbessern.

Klemens Ludwig: Das Baltikum: Estland, Lettland, Litauen. München: Beck (Beck'sche Reihe, Aktuelle Länderkunden), 2. Aufl., 1991, 17,80 DM

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