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Ballett-Uraufführung in HannoverNur Abstürzen ist schöner

In Hannover denkt das Ballett „Ikarus“ übers Fliegen nach: Choreograf Andonis Foniadakis ist ein komplett desillusionierter, toller Abend gelungen.

Flugversuche zu zweit mal vier: Die Multiplikation der Figuren macht klar: Wir alle sind Ikarus, Dädalus. Und Minotaurus Foto: Carlos Quezada/Staatsoper Hannover

Hannover taz | Alles stürzt. Daran lässt Julien Tarrides drängende „Ikarus“-Komposition von Anfang an keinen Zweifel, auch wenn sie, obwohl eigens für diese Produktion der Staatsoper Hannover geschaffen, leider nur vom Band ertönt.

Der Mix aus verfremdetem Gesang, handgearbeiteten Streicher-Akkorden und minimalistisch variierenden, elektronischen Klängen könnte sicher, wie jede gute Ballettmusik, auch live und ohne Andonis Foniadakis’ Choreografie gut bestehen.

Noch bevor der Tanz mit klugen Figuren, fließenden Armbewegungen und unheimlichen Schattenwürfen eine Ahnung vom Traum des Fliegens erzeugt, noch bevor die Augen im von Sakis Birbilis designten Schwarz-Weiß-Gewitter die Gestalt mit zerbrochenen Flügeln erfassen, hat Tarride den Raum mit einem schier endlosen, vielstimmigen, kratzigen Glissando besetzt.

Immer wieder neu beginnt es, oft quälend dissonant, in lichter Höhe, um von dort alles in ein Fallen einzubeziehen. Das aber hält keiner unendlich sanft in seinen Händen. Und damit ist die Geschichte schon vorbei. Der Ikarus-Mythos handelt davon, wie dieser Jüngling aus Begeisterung über die technische Innovation seines Vaters Dädalus – echte Flügel, wie geil ist das denn! – dessen Sicherheitshinweise ignoriert: Absturz, Tod und Ende.

Äußerst konzentriert

Mehr zu erzählen gibt es nicht, und das will Foniadakis auch gar nicht. Statt eines Handlungs-, hat er ein mitreißendes Reflexions-Ballett geschaffen.

Beschränkt auf den Drehbühnenkreis, also im Wortsinn hochkonzentriert, spielen die Bewegungen die Motive dieser Ur-Erzählung durch, wenden sie ins Allgemeingültige: Die Vater-Sohn-Beziehung tragen der athletische Jamal Uhlmann und der zierliche Floris Puts noch in einem Kampftanz-Pas-de-deux aus, dessen heftige Hebefiguren Uhlmann wie beiläufig absolviert.

Zum Menschheitsthema erweitert der selbst auf Kreta aufgewachsene Choreograf die Motive der Erzählung dann, indem er ihre zwei Rollen vervielfacht, wobei er, unterstützt von Anastasios Sofronious’ Kostümen, die Geschlechterkonventionen aufweicht: Die Ikarusse haben rote Kittelkleid-Minis an, Team Dädalus ist in sexy beinfreie Bodys gekleidet, die, zweifarbig, wie Rüstungen wirken. Eine dritte Gruppe – vielleicht die Wolken, vielleicht die Wogen des Meeres – trägt Grau.

Die Aufführungen

Ballett „Ikarus“: wieder am 4., 13. und 24. 4. sowie am 1., 4., 10. und 18. 5., Staatsoper Hannover

„Ikarus“ ist ein desillusioniertes Stück, das zugleich das Glück des Träumens bewahrt: Gefangen in Technik, bedroht durch ihre Folgen – sowohl der Minotaurus als auch das Labyrinth, in dem man Vater, Sohn und Monster eingesperrt hat, sind Produkte von Dädalus’ Genie – gibt’s Rettung nur dank Technik. Die zum Absturz führen wird. Wunderbar.

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