Bahn-Verspätungen: Ein Streik ist kein Tsunami
Muss die Bahn für streikbedingte Verspätungen haften? Ja, meint Bundesjustizministerin Zypries. Die Bahn hingegen weist die Verantwortung von sich.
FREIBURG taz Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) stellt sich gegen die Bahn. Nach ihrer Auffassung haben Kunden bei streikbedingten Verspätungen einen Anspruch auf Gutscheine. Das sagte sie in einem Interview der Berliner Boulevardzeitung BZ. Die Bahn beruft sich hingegen auf "höhere Gewalt". Die Frage ist bislang gerichtlich noch nicht geklärt.
Die Eisenbahnverkehrsordnung regelt, dass die Bahn gesetzlich nur dann für Verspätungen haften muss, wenn eine Reise nicht am selben Tag fortgesetzt werden kann. Dies soll die Bahn davor schützen, von unzufriedenen Kunden für jede Verspätung verklagt zu werden.
Dennoch hat die Bahn bei längeren Verspätungen bisher aus Kulanz Gutscheine verteilt. Im Jahr 2004 verpflichtete sie sich in einer Kundencharta ausdrücklich dazu, bei Verspätungen von mehr als einer Stunde zwanzig Prozent des Fahrpreises per Gutschein zu erstatten. Diese Klausel ist inzwischen Bestandteil der Beförderungsbedingungen und damit einklagbar.
Der Anspruch auf Gutscheine wird aber ausgeschlossen, wenn die Verspätung auf dem Verhalten eines Dritten beruht, das die Bahn "trotz Anwendung der nach Lage des Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden und dessen Folgen sie nicht abwenden konnte". Für die Bahn ist der Streik der Lokführer ein solcher Ausschlussgrund. Sie will darum selbst bei längeren Verspätungen keine Gutscheine verteilen.
Viele Verkehrsrechtler wie Ernst Führich von der Fachhochschule Kempten halten diese Argumentation für falsch. Weil der Streik zur "betrieblichen Sphäre der Bahn" gehöre, liege, anders als etwa bei einer Naturkatastrophe, keine höhere Gewalt vor. Außerdem habe die Bahn Einfluss auf die Tarifverhandlungen und könne den Streik verhindern. Dieser Auffassung hat sich nun die Justizministerin angeschlossen. Für die Gerichte bindend ist dies allerdings nicht.
Für mögliche Streiks der kommenden Tage ist der juristische Streit nebensächlich. Denn die Kundencharta der Bahn gilt nur im Fernverkehr, während die Lokführer nach einer umstrittenen Entscheidung des Arbeitsgerichts Chemnitz bis auf Weiteres nur im Nah- und Regionalverkehr streiken dürfen.
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