Baden-Baden nach Corona: Die kleinste Weltstadt der Welt
Die Kurstadt war stets Magnet für ein internationales Publikum. Dann kam die Coronakrise. Jetzt fährt der Ort bei einem Aperol Spritz wieder hoch.
Ein i3-BMW der Stadtwerke saugt einsam Strom aus einer Ladesäule. Gleich nebenan säuselt aus dem menschenleeren Restaurant des Kurhauses von Baden-Baden dezent „Rock Your Baby“ von George McCrae. Mildes Sommerwetter, Kieselweg-Ambiente.
Unter dem Runddach des Musikpavillons hängt ein LED-Plakat, das für „Emotionen Live“ wirbt, dargebracht vom US-Amerikaner Refik Anadol. Der türkischstämmige Medienkünstler zeigt unter dem Titel „Digital Dreams“ im imposanten Bénazetsaal und zwei weiteren Räumen unter den Kronleuchtern der Beletage Datenskulpturen im Überwältigungsmodus. Ein schrilles Pixelballett aus mehr als 46 Millionen Bildern, unterlegt mit Ambientsound oder Fiepgeräuschen. In seiner Digitalskulptur „Bosphorus“ etwa kann man den Bewegungen des Meeres dank Hochfrequenz-Radardaten des örtlichen Wetterdienstes nachspüren, die Anadol über 30 Tage gesammelt hat. Das auf drei Monate angelegte Spektakel (geöffnet bis 4. September) steht im Dienste der Wiederauferstehung der Stadt.
Denn Baden-Baden, das mondänste und teuerste Kurbad Deutschlands, die „kleinste Weltstadt der Welt“ – so ein ehemaliger PR-Slogan –, fährt wieder hoch. Auch die ehemalige Residenzstadt war beinhart von den Folgen des Coronavirus betroffen, nun heißt es: Restart auf der Bonanza der Reichen und Schönen. Die sonst bereits mit dem Aufgalopp zum Osterfest im Festspielhaus beginnende Saison ist mit moderatem Tamtam am ersten Juliwochenende gestartet.
Damit beginnt „The Good-Good-Life“ – so ein aktueller PR-Slogan – mit drei Monaten Verspätung. Aber selbst jetzt, wo in Bling-Bling-Treffpunkten wie dem Bar-Restaurant Rizzi am Rande der innerstädtischen Parkaue bereits wieder standesgemäß gesüffelt und getafelt wird, fehlt ein Großteil des internationalen Publikums. Seit über 200 Jahren dreht die Welt in Baden-Baden eigentlich ihre Pirouetten – nun kam Corona dazwischen.
Zwar sind die berühmten Russen, die zu jeder anderen Zeit gern in Baden-Baden urlauben, längst nicht mehr so spielentscheidend wie noch vor 10 oder 15 Jahren. Doch auch die betuchte Klientel aus den USA oder Saudi-Arabien wird nicht nur von Nobeletablissements wie Brenners Park Hotel schmerzlich vermisst. Und tatsächlich: Ein Kontrollgang unter den purpurfarbenen Baldachins des Hauses zeigt eine durchaus gesunkene Quote an Mercedes-G-Klassen in der Edelförster-Version im Preissegment zwischen 90.000 und 270.00 Euro (das V-12-Modell) und handelsüblichen Porsche-911ern aus den mittleren Siebzigern.
Wie stark die Einbußen 2020 sind, kann man bislang nicht mit Zahlen belegen. Diskretion ist auch alleroberste Kajüte, doch selbst Tourismuschefin Nora Waggershauser bemüht sich gar nicht erst, schön Wetter zu machen. „Immens“ sei die Delle der vergangenen Monate, verrät sie im Hintergrundgespräch. „Für alle Segmente: Übernachtung, Kultur, Bäderbetriebe und Gastronomie.“
Das zeigt auch die Eigenempirie: So musste der Autor dieser Zeilen erstaunt feststellen, dass ein privat geführtes Boutique-Hotel mit 15 Zimmern etwas außerhalb des Zentrums noch am 25. Juni komplett verwaist war. Schlüssel abzuholen im Schließfach am Eingang, Frühstück im Quarantänemilieu. Baden-Baden allein zu Haus.
Tektonische Verschiebungen
Nun mag das Schicksal des berühmten Nobelorts am Rande des Schwarzwalds im Hinblick auf andere Corona-Effekte, wie Schlachthofskandale oder ausgebeutete Mitarbeiter in Paketverteiler-Sweatshops, wenig brisant erscheinen, sprechen wir hier doch von den Sorgen der Gutverdiener, der gehobenen Stände. Doch erstens arbeiten in der komplex aufgestellten Infrastruktur zigtausende Dienstleister vom Pagen bis zum Toningenieur. Baden-Baden ist eine Mittelstadt, sie besteht eben aus mehr als nur dem dominierenden Tourismussektor. Die Bertelsmann-Tochter Arvato hat hier einen Sitz, die Marketingforscher von Media Control erheben ihre Daten. Im nahen Rastatt steht ein Werk von Mercedes-Benz. Und zweitens lassen sich gerade unter dem Brennglas von Baden-Baden tektonische Verschiebungen im Kulturbetrieb der Bundesrepublik ausmachen, die weit über den internationalen Millionärs-Jetset und die rund 55.000 Einwohner vor Ort hinausgehen.
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Nicht ohne Grund steht der Restart ins Restjahr massiv im Zeichen der Kultur. Da ist die multimediale Bildschirmshow im Kurhaus nur der Aufhänger. „Nach Wochen des Eingesperrtseins konnten wir endlich unseren lange geplanten Themenkomplex ‚Die Bilder der Brüder‘ eröffnen“, sagt etwa Judith Irrgang, Leiterin der Sammlung Frieder Burda, die in einem schneeweißen Kubus des kalifornischen Architekten Richard Meier beheimatet ist. „Die Ausstellung, in der es um emotionsgeladene Farben und familiäre Lebensgefühle geht, erfuhr vom ersten Tag an einen sehr großen Zuspruch. Als würden wir eine lange vermisste Leerstelle schließen. Das Bedürfnis nach guter Kultur machte sich sogleich im übrigen Stadtleben bemerkbar“, so Irrgang.
Gleich nebenan zeigt die Kunsthalle von 1909 die brillant kuratierte Bilder- und Objektshow „Körper, Blicke, Macht. Eine Kulturgeschichte des Bades“. Das weltberühmte Gemälde „Der Tod des Marat“ von Jacques-Louis David ist dort mal eben als Leihgabe aus dem Schloss in Versailles zu bestaunen. Mord im Badezimmer als massiver Re-Start-Weckruf. Wo Nord- und Ostsee die Strandsehnsüchte deutscher Mallorca-Familien bedienen und sogleich überfüllte Corona-Superspreader-Hotspots befürchten müssen, lässt man es in Baden-Baden notgedrungen etwas gediegener angehen. Das Straßenleben rund um das legendäre Café König mit seinen Schwarzwälder-Kirsch-Kreationen oder die bodenständige Betonterrasse des Amadeus am zentralen Leopoldsplatz wirkte am letzten Wochenende bereits sehr Aperol-geschwängert. Doch im Herzen der Bentley- und Meeresfrüchte-Sommerfrische werden die Umsätze eben nicht über wohlfeile Sonderangebote generiert. Und hier kommt wiederum massiv die Kultur ins Spiel.
Berlin ist tot, es lebe der Südwesten
Während Berlin gerade von einer Sinnkrise in die nächste taumelt und Weihestätten des Nachtlebens wie etwa das Berghain auf unabsehbare Zeit so tot sind wie eine Techno-Maus, erfreut sich auch die U-40-Generation zunehmend am diskreten Charme der historischen Thermen und Hoteldachpools. Neobürgerlichkeit und Kasino-Libertinage als Konsequenz von Corona und Co.?
Marjolijn Winten, die für eine Amsterdamer Online-Musik-Plattform arbeitet, gehört etwa zu dieser gar nicht mehr so neuen Zielgruppe. „Was für eine Überraschung! Wir waren eher zufällig dort, auf einer Wir-mussten-mal-raus-Tour durch den deutschen Südwesten. Luxuriöse Ausstrahlung, tolle Atmosphäre, gar nicht mal sooo teuer. Diesmal waren wir nur einen verlängerten Nachmittag dort, werden aber sicher wiederkommen“, sagt die niederländische Mittdreißigerin, die sich sonst auf Popkonzerten oder Start-up-Conventions bewegt – und das ganz ohne Anflug von Ironie.
Noch bis zum Ende der Nullerjahre musste man seine Faszination für den Rollator- und Industriellen-Familien-Chic von Baden-Baden mit Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881), Jazzpapst Joachim-Ernst Berendt oder zumindest Thomas Gottschalk grundieren. Der Ex-ZDF-Showtitan hat in Baden-Baden Ende 2019 „eine geografische Zusammenführung von Beruf und Privatleben vorgenommen“, wie der Südkurier stolz notierte.
Rings um den üppigen Baumbestand der Lichtentaler Allee kommt mittlerweile einiges zusammen. Wie selbstverständlich läuft über Außenlautsprecher der Northern-Soul-Klassiker „Be Young, Be Foolish, Be Happy“ von The Tams zum Loup de mer (39 Euro pro Person) im Rizzi. Die öde Phase, in der die Kunsthallenmacher mit einem Piccolo in der digitalen Vernissage angestoßen haben, sind Gottlob erst einmal vorbei.
„Die Stadt verkörpert jene Sehnsucht nach Arkadien, einer heilen Welt, die wir uns mit Covid-19 besonders erträumen“, sekundiert Burda-Museum-Mitarbeiterin Judith Irrgang; nicht ohne den nötigen Hauch von Pathos. Als Lokalpatriotin, die durchaus auch die Schattenseiten des diskreten Geldverballerns im großen Stil kennt, darf sie das wohl. „Baden-Baden bietet eben diese den Körper und Geist anregende Harmonie oder Lässigkeit, den homöopathischen Mix aus Kunst-Kultur-Geschichte, Schönheit und Natur. Der Sehnsucht kommt man beim Durchstreifen der Stadt an allen Ecken und Enden auf die Spur. Baden-Baden wird immer mehr ein spritzig, glamouröses Erlebnis.“
Judith Irrgang vom Burda-Museum
Wer den Baden-Baden-Ball erst mal ein wenig flacher halten möchte, kann auswählen zwischen einem wohligen Schwips zur Blauen Stunde – stilvoll den Harald Juhnke gebend, dessen Diktum befolgend: „Keine Termine und leicht einen sitzen“ – oder eben durch private und öffentliche Kunsträume streifen.
Aktuell etwa das gemeinsame Ausstellungsprojekt der Stiftskirche Baden-Baden und des Burda Museums. Dieter Kriegs „Licht und Quell“ zeigt in dem ansonsten leeren Gotteshaus eine „Fettquelle“: Diese trägt ihren Namen wegen ihres Fettglanzes, der von zahlreichen, besonders gemixten Mineralien stammt. Krieg wiederum lebte als junger Künstler für eine Weile im Ort, bevor er eine Professur an der Düsseldorfer Akademie antrat. In seinem Œuvre finden sich diverse Arbeiten, die sich auf Baden-Baden beziehen. Auch hier wieder: eine spezielle Aura zwischen Geist und Protz, die ebenfalls renommierte Adressen wie Bad Kissingen oder auch Wiesbaden nur bedingt für sich beanspruchen können.
In den einschlägigen Künstlerzirkeln wird gar gemunkelt, dass sich Ex-Nationalgalerie-Boss Udo Kittelmann künftig noch stärker zwischen Brenners Park Hotel und dem Europäischen Hof, der seit Jahren eine schmerzliche Dauerbaustelle im Zentrum ist, orientieren wird. Sensation! Der große Kittelmann comes to town! Wow, shocking! Wie einst Andy Warhol, der Anfang der Achtziger auf der Terrasse des Burda-Clans seinen Tee zu nehmen pflegte – und sogleich die sammelnden Brüder im quietschbunten Siebruck verewigte. „Farbe, Druckkunst, Glamour. Kaum ein Bild bringt so kongenial zusammen, was die Familie im Kern auszeichnet“, heißt es wenig bescheiden in der Chronologie des Katalogs.
Auch in der Causa Kittelmann scheint der seltsame Charme der Provinz den angeschossenen Molochstandort Berlin zu toppen. Stiftung Preußischer Kulturbesitz? Pah! Zu viel Stress und Bürokratie, im lauschigen Baden-Baden sind die Dienstwege weitaus kürzer. Und führen zum Feierabend geradewegs in ein Glas Erdbeer Daiquiri.
Letzter Ausweg: Poolparty
Doch hat das alles etwas zu bedeuten, für Deutschland und seine demnächst drei oder gar fünf Millionen Arbeitslosen? Jetzt mal abgesehen von individuellen Karriere-Schlenkern einer Handvoll ohnehin schon privilegierter Kunst- und Kulturmanager?
Wer in diesen Tagen mit einem „Schwarzwaldbrot“ im Anschlag vor der Kunsthalle sitzt und beim Blick auf den nahen Springbrunnen durchaus denken darf, er sei Marcel Proust oder Mark Twain, der erlebt – ohne Geldkofferbarriere – das öffentliche Baden-Baden. Zuweilen sogar moderat gepreist. In der zentralen Einkaufsmeile, wo es natürlich auch handgemachte Pferdelederslipper oder Luxusdessous zu erwerben gibt, kostet ein Fleischkäse-Brötchen beim Metzger nur einen sensationellen Euro.
Der große Vorteil ist bislang: Der Mix zwischen Maserati-Protz und Mir-doch-egal-Gestus läuft weitgehend geräuschlos. Die Einheimischen kennen die Show seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten und machen somit keinen großen Aufriss um den Dinnertalk der Prominenz.
Wer vom ehemaligen Fernbahnhof Bad Oos (heute: ICE-Stopp Baden-Baden) den 201er Bus ins Herz des Wohlstands nimmt, stellt erstaunt fest, dass es hier auch echte HipHop-Kids mit gefährlich aussehenden Trainingshosen oder aufgepappten Billie-Eilish-Fingernägeln gibt.
Shakira, Shakira
Phänomene wie Überfüllung und Overtourism gab es vor Corona ohnehin nur während des Teenie-Spektakels „New Pop“, ausgerichtet vom örtlichen Radiosender SWR3. Wie viele Festivals und Musikshows ist der Parcours, zu dem auch mal Shakira oder Gruselrentner Alice Cooper auftauchte, für 2020 bereits abgesagt. So bleibt für die kommenden Monate eine angenehme Langweile, aus der es jederzeit einen Ausweg gibt. Und sei es mit einer Wanderung durch die benachbarte Weinregion Rebland.
Wer dagegen den nicht so diskreten Charme der Jeunesse dorée live miterleben will, wendet sich etwas abseits des Zentrums dem neu erbauten Hotel Roomers zu. Die Frankfurter Boutique-Hotel-Spezialisten sind auf ein betuchtes Um-die-40-Publikum spezialisiert, das Sven Väth nicht nur aus Ibiza kennt und Tempura bereits in Tokio gekostet hat.
Bei unserem Besuch am Freitagabend zelebriert ein DJ hinter seiner Panzerknackersonnenbrille jene spezifische Spielart von House Music, die zwischen Café del Mar und Bahnhofsviertel oszilliert. Im kleinen Dachpool ein neckisches Pärchen, das spärlich bekleidet Instagram-Gymnastik aufführt. Hinten in der Ecke sitzt ein angestrengt ferntelefonierender Krawattenmann im gestärkten Hemd, der standesgemäß einen Champagnerkühler vor sich hat.
Noch ist diese hedonistische Aufführung Post-Corona-bedingt reglementiert. Mit Sitzordnung, Abstand und Cocktailkarte über Smartphone-Scan. Trotzdem alles sehr analog und auf eine sehr altmodische Art und Weise politisch unkorrekt. Ansonsten lautet die bereits in den 1980er Jahren zu Ruhm und Ehre gekommene Parole mit Blick auf die bewaldeten Höhen ringsumher: Fuck Art, Let’s Dance!
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