: Baal sind alle egal
Abschied von einer überlebten Bühnengestalt am BE
Am Ende erwartet Baal nur noch den Tod. Wie ein stolzer Indianer hockt er auf der Bühne und blickt ins weite Parkett, wo er Wind und Laub und Sterne vermutet. Dann kommt ein gesichtsloser Jäger von hinten, drückt ihm den Gewehrlauf an die Stirn, das Licht erlöscht, es kracht ein Schuß.
So einsam, so kalt endet der „Lebenslauf des Mannes Baal“, den Peter Palitzsch am Berliner Ensemble erzählt. Ein Außenseiter wird weggeräumt, als letzte Gnade gibt's nur den Gnadenschuß. Das ist nicht die Geschichte des Dichters Baal, die der junge Brecht fiebrig entwarf. Das ist nicht die Ballade vom Kraftkerl und Nimmersatt, der das Leben ausschlürft wie eine Bouteille, wegwirft und ihr hinterrülpst. Es ist vielmehr eine, auf eine spätere, zynischere Fassung Brechts zurückgehende Bearbeitung. Ein zum Schluß heftiger, teils heiterer, zumeist jedoch schwermütiger Abschied von einer überlebten Bühnengestalt: Adieu Baal! Adieu Sinnesmensch! Adieu Poesie!
Schon am Anfang ist dieser Kraftkerl (Volker Spengler) seiner Kräfte und seines Geheimnisses beraubt. Efeuumkränzt steht er an einem von Bratenröcken gesäumten Bankett-Tisch und verfolgt mit großen, staunenden Augen die piekfeine Soirée: weniger ein Provokateur als ein Beobachter der Gesellschaft. Auch am Stammtisch der Spießbürger drängt es ihn nicht, das Vieh zu spielen. Vorsichtig rezitiert er die „Legende von der Dirne Evelyn Roe“. Und als die braven Männer dann zwar rote Ohren kriegen, aber ihre eigene Lust nicht wahrhaben wollen, staunt Baal nur, kalt wie ein Aal.
Gefühle überläßt er sowieso den anderen. Zum Beispiel den Frauen, die von ihm nicht umgelegt werden, sondern sich unter ihn drängeln. Wie die geile Emilie, die lustvoll Schnaps trinkt, sich auf Befehl vom Fremden zwischen die Beine küssen läßt. Oder der unschuldige Backfisch Johanna: Sie schwärmt von Liebe, wo doch Triebe wirken. Und nicht zu vergessen Sophie, die Baals Unterhemd gierig mit dem Messer aufschlitzt und sich schaudernd seiner Häßlichkeit hingibt.
Sie alle wollen Baal – doch Baal sind alle egal. Baal beobachtet Baal, Baal staunt, Baal nölt, Baal rollt die Augen, Baal trägt seinen voluminösen Schmerbauch umher, Baal denkt, Baal dichtet, Baal tippt auf der Schreibmaschine, Baal ist müde, Baal ist faul, Baal ist ein trauriger Indianer im grauen Anzug, Baal zeigt keinen Schmerz.
Alles ist Baal – oder nichts. Peter Palitzsch entzaubert den Götzen der Fleischlichkeit als eine Fata Morgana, eine große, fette Projektionsfläche, eine Art männlicher Lulu. Verführer für die, die gerne verführt werden. Verkörperung ihrer unterdrückten Lüste und feuchten Sehnsüchte. Ein Wesen, das die Menschen so rasend entfacht, daß nur dessen Tod die Begierden zu kühlen vermag.
Doch wie läßt sich eine Fata Morgana darstellen, daß die Darstellung Freude macht? Das fällt Peter Palitzsch schwer. Er offeriert nur einen Geschenkkarton, ein Stück Pappe, ein bißchen buntes Papier, ein paar glitzernde Schleifen. Doch kein Geschenk ist drin! Mit spröder Ironie, mit Lust auf Pausen, sanfter Mechanik schiebt er den Baal über die von Karl Kneidl bebaute Bühne.
Bald sehen wir unter einer Kette von riesigen Neonleuchten einen grauen Fleck stehen – das ist der Fluch der Zivilisation. Bald liegen schlabberndes Fleisch und graue Unterwäsche auf einem eisernen Bettgestell – das ist der „stellungslose Monteur und nichts als Geschlechtsverkehr“. Bald schleppt Baal sich, seinen Bauch und die graue Schreibmaschine auf der Flucht über die nur mit einer Birke bepflanzte Bühne – das ist der Weg zurück in die Natur. Und der Weg weg vom Theater: zuwenig für Augen, Ohren, für unsern Geschmack, für unser Plaisir.
Und außerdem: Egal an welchen Plätzen Baal sich gerade befindet, Baal ist ja sowieso immer nur scheinbar Baal. Nur Haut, nur Knochen, nur Fett – doch nicht Geist von Baal. Sein Drama findet ja im ehemaligen Brecht-Theater nicht mehr statt, seine Geschichte erzählt uns Peter Palitzsch nicht, er zeigt uns nur einen Mord. Statt „Baal heute“ also nur: „Baal heute nicht“. Dirk Nümann
„Lebenslauf des Mannes Baal“, Regie: Peter Palitzsch. Mit Simone Frost, Maria Husmann, Urs Hefti, Agnes Kraus, Volker Spengler, Stefanie Stappenbeck u.a. Nächste Aufführungen: 27., 28. und 30.11., 19.30 Uhr, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte.
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