BVG und SPD verlassen X: Langsamer Abschied von Twitter
Nicht nur El Hotzo hat Probleme mit Twitter, auch viele Organisationen denken über Abschied nach. SPD und BVG sind die jüngsten prominenten Abgänger.
Olaf Scholz (SPD) hat auf die Verschwörungserzählung nicht reagiert, dafür der RBB. Demnach werde El Hotzo die Sendung „Theoretisch cool“ auf Radio Fritz – selbst nicht auf Twitter – nicht mehr moderieren. Seine Äußerungen, etwa: „Ich finde es absolut fantastisch, wenn Faschisten sterben“, seien mit den Werten des RBB nicht vereinbar. El Hotzo schrieb zum Ende seiner alle zwei Monate stattfindenden Radioshow: „Ich bin Deutschlands frechster Arbeitsloser.“
Die Posse um El Hotzo mit seinen 700.000 Followern wirft erneut die Frage auf, inwiefern X, wie es seit der Übernahme von Musk 2022 heißt, noch ein öffentlicher Raum ist, in dem seriöse Akteur:innen etwas zu suchen haben. Oder ob es sich, um mit Jan Böhmermann zu sprechen, um eine „rechtsextreme Loserplattform“ handelt? Tatsächlich ist X zu einem unmoderierten Ort für Hass und Hetze geworden. Kaum ein Beitrag, vor allem aus der linken Ecke, der nicht im Shitstorm rechter Trolle und mit Kommentaren von Sex-Bots geflutet wird.
Die Debatte um eine – möglichst kollektive – Flucht wurde in den vergangenen zwei Jahren schon mehrfach geführt. Im Zuge der Hypes um die Alternativ-Plattformen Mastodon, Bluesky und Threads hatten vor allem linke User:innen X verlassen. Doch voll durchgesetzt hat sich keiner der neuen Räume, weshalb der prominente Exodus ausblieb. Vor allem staatliche und öffentliche Akteure hatten Angst vor Bedeutungsverlust, zumindest in der primären Twitter-Gemeinde aus Journalist:innen, Aktivist:innen und Politiker:innen.
Fraktion versus Partei
Als erster wichtiger Akteur des politischen Berlins – abgesehen vom Abgang von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert 2022 – hat Ende Mai die Berliner SPD ihren Account zwar nicht gelöscht, aber immerhin stillgelegt. Vorausgegangen war ein Beschluss des Landesparteitags. Demnach behalte man sich vor, regelmäßig zu überprüfen, „ob sich die Plattform im Sinne eines freiheitlich-demokratischen Diskurses und eines im Wesentlichen sicheren digitalen Raumes entwickelt, was eine Reaktivierung der Accounts ermöglicht“. Sollte Musk nicht die Lust an seinem Spielzeug verlieren und es verkaufen, wird das wohl noch lange dauern.
Es wäre nicht die SPD, wenn nicht die Fraktion zu einem anderen Ergebnis käme. Wie ein Sprecher auf taz-Nachfrage erklärt, sei ein Abschied von X zwar diskutiert, dann aber verworfen worden. Man betrachte X nach wie vor als ein wichtiges Mittel der Öffentlichkeitsarbeit. Nun ja, der X-Account der Genoss:innen im Landesparlament hat etwas mehr als 3.800 Follower.
Ähnlich argumentiert auch die Berliner Linke, konkret: ihr prominentester Twitterer Ferat Koçak. „Als Aktivist und Politiker braucht man die Masse“, sagt Koçak. Und da er mit seinen Statements medial „nicht immer durchdringe“, sei er auf X angewiesen. Doch der Preis ist hoch: „Der Hassmob ist bei mir angekommen“, so Koçak. „Würde ich all die Kommentare lesen, würde ich durchdrehen.“
Überraschend kam diese Woche ein zweiter prominenter Berliner Abgang. Nach 13 Jahren Präsenz hat sich die BVG zurückgezogen – mit der kurzen Botschaft: „Liebe Fahrgäste, das ist unsere Endstation. Wir sind weiterhin bei Instagram, Facebook und TikTok unterwegs.“ Auf Nachfrage teilte ein Unternehmenssprecher mit, die BVG verlasse X „aufgrund der zunehmenden Präsenz von Hass, Hetze, Populismus und unkontrollierter Hatespeech – ohne angemessene Moderation der Inhalte durch die Plattform selbst“.
Für Ironie-Werbung nicht mehr wichtig
Für die Verkehrsbetriebe war Twitter/X jahrelang ein wichtiger Kanal ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Nicht nur nutzen sie die Plattform, um die Fahrgäste über Baustellen oder Schienenersatzverkehr zu unterrichten, sie diente auch der Verbreitung von Kommentaren, Memes und Werbevideos in eigener Sache, seitdem sich die BVG ein von Ironie geprägtes Image verpasst hat. An den Nutzerzahlen habe sich aber schon ablesen lassen, „dass wir unsere Fahrgäste offensichtlich nicht mehr über X erreichen“, so der Sprecher.
Beim zweiten großen Verkehrsunternehmen, der S-Bahn Berlin, ist man von einem solchen Schritt offenbar noch weit entfernt. Ende Juni hatte der Twitterkanal seine Nutzer:innen „mal unverbindlich“ gefragt, ob sie „weiter hier informiert werden“ wollten oder lieber „drüben auf Insta/Threads oder ganz woanders“. Nach der Auswertung der Antworten – ein Abstimmungstool wurde nicht verwendet – stehen die Zeichen offenbar nicht auf Rückzug.
Die Freie Universität hatte sich dagegen im April ohne viel Aufsehen mit einem letzten Tweet verabschiedet und dies mit den „Entwicklungen auf X“ begründet. Schon zuvor war das Grips-Theater mit der vagen Hoffnung gegangen: „Unser Account schläft hier, bis es wieder besser wird.“
Bei Organisationen der Zivilgesellschaft ist das Bild uneinheitlich. So hat etwa der Landesverband des BUND schon am 5. Oktober vergangenen Jahres einen #lasttweet gepostet. Bereut habe man diesen Schritt nicht, sagt des Umweltschutzverbands BUND Sprecher Nicolas Šustr, und man habe auch nicht die Absicht zurückzukehren. Die Reichweite sei ohnehin überschaubar gewesen: „Wir hatten den Eindruck, dass die X-Algorithmen Posts von Accounts gewerblicher Kunden oder gemeinnütziger Organisationen unterdrückten, wenn diese nicht dafür zahlten.“ Auf Mastodon und Bluesky habe der BUND bereits jetzt rund drei Viertel der Followerzahl auf X erreicht, so Šustr.
Nabu sieht „Keine Alternative“
Der Naturschutzbund Nabu ist weiterhin auf X präsent, allerdings „weitaus weniger und weitaus weniger enthusiastisch als noch vor ein oder zwei Jahren“, so die Sprecherin des Landesverbands, Alexandra Rigos. Dass ein Rückzug noch nicht erfolgt sei, liege daran, dass „wir keine echte Alternative sehen“. X sei wichtig, weil die Plattform es ermögliche, „Entscheidungsträger und Multiplikatoren direkt zu adressieren“, sagt Rigos: „Wir würden jederzeit wechseln, wenn sich eine überzeugende Alternative bietet.“
Die Mobilitätswende-Organisation Changing Cities hat sich Mitte Juni zusammen mit 46 anderen Organisationen aus den Bereichen Umwelt, Gesundheit, Menschenrechte und Soziales von X zurückgezogen – unter dem Hashtag #ByeByeElon. Changing-Cities-Sprecherin Ragnhild Sørensen sagt heute, das sei „genau die richtige Entscheidung“ gewesen. Eine erste Reaktion sei von den eigenen Media-Mitarbeiter:innen gekommen: „Die sagten, ihre Arbeit sei so viel angenehmer, seit sie sich nicht mehr mit so viel Hass und Hetze auf X auseinandersetzen müssten.“ Mit X habe man zwar den größten Kanal eingebüßt, die Followerschaft auf den anderen Plattformen wachse aber zum Teil extrem stark, gerade auf Instagram und LinkedIn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen