„Mit den Trümmern der Geschichte leben“

Svenja Leibers Roman „Kazimira“ handelt von einer starken Frau im 19. Jahrhundert und dem Mord an mehreren Tausend Jüdinnen im Jahr 1945. Ein Gespräch über das fatale deutsche Streben nach Osten, den nie unnötig gewordenen Kampf für Frauenrechte und den Krieg in der Ukraine

Dieser Sand bedeckt auch Spuren blutigsten Geschehens: Wanderdünen im russischen Teil der Kurischen Nehrung Foto: Thoralf Plath/dpa

Interview Petra Schellen

taz: Frau Leiber, wer ist Kazimira, Ihre Protagonistin?

Svenja Leiber: Eine Prußin im Samland, früher in Ostpreußen, heute in der russischen Exklave Kaliningrad gelegen. Als Prußin ist sie Angehörige der „heidnischen“ indigenen Bevölkerung und somit eine Randfigur in der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Als der Roman beginnt – 1871 zur Gründung des Kaiserreichs –, ist der historisch baltische Stamm der Prußen nur noch an wenigen Nachnamen oder auch an typischem Grabschmuck, wie hölzernen Kröten und Pferdeköpfen, auszumachen. Karizimira ist also eine Figur, die aus einer verschwundenen Zeit herüberstrahlt.

Wie lebt sie?

Sie lebt in Armut mit ihrem Mann, dem Bernsteinschnitzer Antas, auf der Kurischen Nehrung. Die Eheleute geraten in das Umfeld der Bernsteingrube Anna, wo Antas Vorarbeiter wird. Um diese Grube herum entspinnen sich verschiedene Schicksale. Wobei Kazimira immer wieder eine Widerständigkeit versucht gegen Begrenzungen eines patriarchalen, aber auch zunehmend nationalistischen Umfeldes.

Wie widersetzt sie sich?

Auf sehr eigenwillige Art. Denn sie ist kein gebildeter, aber ein sehr starker Mensch, den man heute vielleicht als queere Person bezeichnen würde, die sich nicht in Geschlechternormen zwängen lassen will. Einerseits hadert sie mit Aufgaben, die ihr die Gesellschaft abverlangt – Haushalt, Kinderkriegen und Zurückhaltung. Sie begehrt auf und möchte die gleichen Freiheiten wie die Männerwelt. Sie hat zum Beispiel durchaus die besseren Ideen für die Bernsteingewinnung. Wie so viele Frauen ihre Zeit bleibt sie aber im Hintergrund, während ihre Idee durch ihren Mann durchgesetzt wird. Ein anderer Versuch aufzubegehren ist ihre heimliche Liebesbeziehung mit einer Frau. Sie ist sich der Gefährlichkeit bewusst, wirft der Begrenztheit und den gewaltvollen Gegnern aber ein subversives Lachen entgegen.

Eine Rolle spielt in dem Roman auch ein Massaker im Jahr 1945.

Damals ermordeten die Nazis an der Annagrube – die als Tagebau immer noch in Betrieb ist – 3.000 jüdische Frauen und Mädchen. Sie waren Überlebende aus den Außenlagern des KZ Stutthof. Als die Rote Armee 1945 vor Königsberg stand, lösten die Nazis das KZ Stutthof hektisch auf und schickten die Häftlinge auf „Todesmärsche.“ Von 10.000 Frauen überlebten 3.000 den Marsch an die Ostsee. Sie wurden vor der Annagrube von den Deutschen erschossen. Es gab nur 15 Überlebende, die erst in den 1990er-Jahren davon berichteten. Mein Anliegen war, ein literarisches Mahnmal für diese Frauen zu ­schreiben. Weil ich aber nicht über die Opfer direkt schreiben wollte – es ist mir unmöglich, literarisch über ein Massaker zu ­schreiben –, bin ich 70 Jahre zurückgegangen, zur Gründung der Grube in den 1870er-Jahren durch einen jüdischen Unternehmer.

Wonach haben Sie gesucht?

Nach dem Boden, auf dem der Antisemitismus der Nazis wachsen konnte. Ich habe bestimmte Spuren verfolgt: einerseits das Aufkommen eines gewissen Homogenitätswahns der Deutschen, der sich mit der Gründung des Kaiserreichs 1870/71, in Ermangelung echter Ideen und auch möglicher Aufgaben als Vermittler zwischen Ost- und Westeuropa, bildete. Diese territorialen Homogenitätsvorstellungen spielten auch für den Antisemitismus eine Riesenrolle. Gleichzeitig versuche ich die Spur der Misogynie zurückzuverfolgen und Parallelen zwischen diesen beiden Formen des Hasses herzustellen. Die antisemitische Rhetorik der „Verweiblichung“ jüdischer Männer war nur möglich, weil es den Frauenhass schon gab.

Wie erlebt Kazimira das damalige Massaker?

Foto: Steffi Fischer

Svenja Leiber

46, aufgewachsen in Schleswig-Holstein, lebt in Berlin. Sie studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte. „Kazimira“ (Suhrkamp, Berlin 2021, 336 S., 24 Euro; E-Book 20,99 Euro) ist ihr vierter Roman.

Sie ist zu dem Zeitpunkt eine alte Frau. Als Prußin entstammt sie einer „heidnischen“ Kultur, und es gibt einen Moment im Roman, wo sie die Frauen auf ihrem Todesmarsch kommen hört, zur Grube geht und sie betritt. Es ist ein Versuch Kazimiras, sich der Grube zur Verfügung zu stellen.

Sie will sich opfern?

So kann man das lesen. Aber es wird nicht ausbuchstabiert – und ist natürlich rein fiktiv. Die Frauen wurden nicht gerettet, der Direktor des Bernsteinwerks, der sich in den Weg stellte, wurde selbst in den Tod getrieben.

Die prußische Kultur gilt ungefähr seit 1700 als ausgestorben. Warum spielen Sie im Roman darauf an?

Weil sie ein Politikum ist. Diese Kultur wurde durch die gewaltsame Christianisierung durch den Deutschen Orden weitgehend zerstört. Der Überfall auf die Sowjetunion 1941 setzte diese Ostkolonisation fort. Die Prußin Kazimira ruft diese bis ins Mittelalter zurückreichende „Tradition“ in Erinnerung.

Das Buch reicht bis in die Gegenwart, seine Schauplätze sind heute teils russisch.

Mich bewegt, wie die Menschen an der Annagrube heute mit den Trümmern der Geschichte leben. Hinzu kommt, dass Misogynie im heutigen Russland ein hochproblematisches Thema ist: Der Status der Frauen hat sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht verbessert. Vielmehr hat er sich in eine patriarchale Form zurückverwandelt.

Wie zeigt sich das im Roman?

Lesung: morgen, Di, 15. 3., 19 Uhr, Kiel, Literaturhaus Schleswig-Holstein

Durch die Figur Nadja, die immer noch in den Bernsteinbergwerken arbeitet. Zu Sowjetzeiten war sie gleichberechtigte Arbeiterin. Heute wird sie Opfer einer patriarchalischen Gesellschaft – einerseits durch eine Vergewaltigung, andererseits durch das Zurückdrehen ihrer Freiheiten.

Ein Wort zum Krieg in der Ukraine?

Er schmerzt mich zutiefst. Ich habe immer wieder längere Zeit in Russland verbracht, Lesereisen in die Ukraine gemacht, ich habe in beiden Ländern Freund:innen, und drei meiner fünf Bücher haben einen Russland-Bezug. Schipino, mein 2010 erschienener erster Roman, befasst sich mit der inneren Emigration russischer Intellektueller. Schon in den 2010er-Jahren wurde klar, in welche Richtung sich die russische Politik entwickelt. Nicht ohne Grund leben inzwischen viele russische Intellektuelle in Berlin. Die westliche Politik hat da in den letzten Jahren viel verschlafen. Und auch wir als westliche Intellektuelle und Kulturschaffende hätten eine Verantwortung gehabt, uns den Problemen Osteuropas noch mehr zu öffnen.

Wer privat Polen, Tschechen, Esten kannte, wusste um die Bedrohung.

Ja. Und jetzt müssen wir zusehen, wie das umgesetzt wird, was unter anderem der Nationalist Alexander Dugin seit Jahren propagiert – den Versuch einer großen slawischen Reconquista. Mich macht das fertig. Ich weiß von vielen Freundschaften zwischen Ukrainern und Russen, von Ehen und Arbeitsbeziehungen, die jetzt zerstört werden. Wir wohnen der sinnlosen Zerstörung von Leben und wirklich vielfältiger Kultur bei. Die Ukraine war immer auch in sich ein kleines Europa.