Autorin Nino Haratischwili über Georgien: „Wir dürfen nicht müde werden“
Vor der Wahl in Georgien bittet Schriftstellerin Nino Haratischwili Europa, die Opposition zu unterstützen. Die Abkehr von Russland hat ihren Preis.
taz: Frau Haratischwili, in diesem Jahr verabschiedete Georgiens Parlament zwei umstrittene Gesetze nach russischem Vorbild: Eines über „ausländische Einflussnahme“ und eines zum Verbot von „LGBT-Propaganda“. Am 26. Oktober wählt Georgien ein neues Parlament. Was erwarten Sie von den Neuwahlen?
Nino Haratischwili: Die Proteste gegen die Regierung werden weniger. Aber wir dürfen nicht müde werden. Darauf hofft die Regierung. Die Georgier:innen im Land und in der Diaspora dürfen nicht dem Nihilismus verfallen. Den spüre ich manchmal selbst. Dann denke ich: Oh Gott, ich kann nicht mehr, ich habe keine Kraft und keinen Glauben mehr. Aber gegen diese Stimmung muss man ankämpfen. Und wir müssen in Europa um Unterstützung in diesem Kampf bitten.
wurde 1982 In Tblissi geboren. Sie lebt und arbeitet in Berlin.Kürzlich inszenierte sie am dortigen Deutschen Theater eine zweisprachige Fassung der „Penthesilea“.
Ihr dritter Roman, „Das achte Leben (Für Brilka)“, war 2014 ein großer Erfolg. Ein breiter Roman, der ein Jahrhundert georgischer Geschichte erzählt, von der Zarenzeit über den Stalinismus bis zur Gegenwart.
Ihr Roman „Die Katze und der General (2018)“ schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.
taz: Was meinen Sie mit Unterstützung?
Haratischwili: Sanktionen. Reiseverbot für Politiker, die diese Gesetze verabschiedet haben. Sperrung von Konten. Mittlerweile bin ich da rigoros. Es gibt zum Glück schon einige Sanktionen, vor allem seitens der USA. In Deutschland ist es da mit Sanktionen nicht so einfach, die müssen mit der EU abgestimmt werden, um sie zu verhängen.
taz: Wie sehen Sie die Chancen der Opposition bei den kommenden Wahlen?
Haratischwili: Es bleibt oft das Gefühl, sich zwischen schlecht und noch schlechter entscheiden zu müssen. Es muss Alternativen geben. Die Oppositionskräfte müssen versuchen, ein Bündnis zu bilden. Viele Gruppierungen werden an der Fünfprozenthürde scheitern, wenn sie alleine antreten. Aber gemeinsam hätten sie sogar die Chance, eine neue Regierung zu bilden.
taz: In den ersten Jahren der Unabhängigkeit von der Sowjetunion kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Georgien. Könnten nach den Wahlen erneut Unruhen drohen, wenn die jetzige Regierung an der Macht bleibt?
Haratischwili: Wir leben heute in etwas anderen Zeiten. Bisher sind alle Demonstrationen einigermaßen friedlich verlaufen. Aber ich schließe nichts aus. Ich kann mir momentan alles vorstellen, auch das Schrecklichste. Denn was in Georgien in diesem Jahr passiert ist, habe ich auch für unmöglich gehalten.
taz: In Ihren Romanen schreiben Sie über das sowjetische und das unabhängige Georgien. Immer wieder geht es um Menschen, die ihr Leben für die Freiheit aufs Spiel setzen. Erkennen Sie Parallelen im heutigen Georgien?
Haratischwili: Das Buch „Das achte Leben (Für Brilka)“ habe ich vor zehn Jahren geschrieben. Es endet mit einer Szene, in der die Polizei zum Parlamentsgebäude marschiert und gegen Demonstranten vorgeht. So etwas passiert heute, in Tbilisi. Bürger:innen werden unterdrückt. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass Georgien nicht vorwärts, sondern rückwärts geht.
taz: Was macht Ihnen Hoffnung?
Haratischwili: Früher haben wir hinter einem Eisernen Vorhang gelebt. Es gab keinen freien Zugang zu Informationen. Wir waren von der Welt abgeschnitten. Heute ist das anders. Die Menschen können verreisen, solange sie es sich leisten können. Sie können googeln, sich informieren. Sie sprechen meistens auch eine weitere Sprache außer ihrer Muttersprache. All das macht sie weniger korrumpierbar. Die Menschen stehen für ihre Rechte und für ihre Überzeugung ein. Das gibt mir Hoffnung.
taz: Russland sieht es nicht gerne, wenn sich seine Nachbarn ab- und dem Westen zuwenden. Droht Georgien das gleiche Schicksal wie der Ukraine, wenn es an seiner Annäherung an die EU festhält?
Haratischwili: Ich kann keine Prognosen abgeben, weil ich – wie die meisten von uns – nicht weiß, was alles im Hintergrund passiert, welche Absprachen stattgefunden haben. Ich habe keine Ahnung, warum unsere Regierung ausgerechnet jetzt mit diesen Gesetzesänderungen kommt. Ich hoffe einfach, dass die Wahlen im Oktober uns die nötigen Veränderungen bringen. Dass Russland für alle westlich orientierten Nachbarstaaten ein Problem darstellt, ist ja jetzt nichts Neues. Wir haben eine sehr lange und sehr blutige Geschichte mit diesem Land und es ist sehr bedrückend, dass uns die Ablösung so teuer zu stehen kommt. Aber das hat Georgien nie daran gehindert, seinen Platz in der europäischen Familie zu sehen und gen Westen zu streben. Und diesen Kurs will der Großteil der Bevölkerung auch beibehalten.
taz: Die Europäische Union hat Ende Juni den Beitrittsprozess für Georgien auf Eis gelegt. Was halten Sie davon?
Haratischwili: Das war abzusehen. Und es deprimiert mich, dass so viel Mühe, so viel jahrelange Arbeit, so viel Engagement seitens der Zivilgesellschaft vorerst gestoppt wurde. Aber ich bleibe zuversichtlich und hoffe, dass der Prozess wieder aufgenommen wird, sobald der Regierungswechsel stattfindet. Und das scheint mir unausweichlich nach all den Entwicklungen der letzten Jahre und Monate.
taz: Wurden ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien oder die Ukraine in ihren Autonomiebestrebungen zu lange allein gelassen?
Haratischwili: Wissen Sie, der Westen hat den Osten nie richtig ernst genommen. In Brüssel oder in Berlin hat man lange Zeit nicht auf die Stimmen aus Ländern gehört, die bittere Erfahrungen mit Russland gemacht haben. Das Narrativ und die Perspektive des Ostens waren immer weniger wert als das Narrativ und die Perspektive des Westens. Durch Russlands Krieg in der Ukraine hat sich das geändert. Der Westen hat endlich seine Scheuklappen in Richtung Osteuropa abgelegt.
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