Autor Cem Gülay zum Mauerfall: „Wie aus einem Zombiefilm“
Der Autor Cem Gülay schrieb mit „Kein Döner Land“ ein Buch über eine gespaltene Bundesrepublik. Ein Gespräch über die Wiedervereinigung.
taz: Herr Gülay, heute jährt sich der Mauerfall. Werden Sie feiern?
Cem Gülay: Nein, genauso wenig, wie ich den Ramadan feiere. Ich halte nicht so viel von Feiertagen. Und ganz ehrlich, der Mauerfall war für uns, also für meine Generation von Deutschtürken, kein Glücksfall.
Warum?
Ich sehe das so: Kanzler Kohl musste seine Versprechen halten und Ansagen von oben machen, Ostdeutschen sofort Arbeit zu geben.
Eine steile These.
Beweisen kann ich sie auch nicht. Aber man hat es gemerkt, weil die Deutschtürken, auch die mit guten Schulnoten, auf einmal sehr viel mehr Bewerbungen schreiben mussten. Die Ostdeutschen sollten zuerst eine Chance bekommen, sich in die Gesellschaft einzugliedern.
Geboren: 1970 in Hamburg
Lebt inzwischen: in Berlin
Personenstatus: unverheiratet liiert
Sprachen: lernt Griechisch
Merkmal: starker Hamburger Akzent
Ausbildung: Abitur, kein Studi- um, dafür Karriere im kriminellen Rotlichtmilieu Hamburgs
Beruf: u. a. Buchautor. „Türken- Sam“ (2009). Im aktuellen „Kein Döner Land“ (mit Helmut Kuhn, bei dtv) beschreibt er in kurzen Texten das Auseinanderdriften von Biodeutschen und Migranten.
Wissen Sie noch, wo Sie am Abend des Mauerfalls waren?
Ich war, glaube ich, in Deutschland.
Und haben Sie damals schon gedacht, jetzt kommen die Ostdeutschen und nehmen mir meinen künftigen Job weg?
Nein, wir haben uns alle gefreut.
Erinnern Sie sich, was Sie damals empfunden haben?
Also, ich hatte eigentlich für diese Menschen einfach nur Mitleid.
Keine starken Bilder vom Abend der Maueröffnung?
Nicht mehr so direkt. Ich weiß nur, dass die Menschen durch die Mauer kamen, und ich hab mir gedacht: Mein Gott, was für arme Kreaturen! Das sah ja wirklich aus wie aus einem Zombiefilm, wie die durch die Mauer brachen. Die waren blass, die hatten nicht die gleichen Klamotten, nicht den gleichen Haarschnitt.
Sie als Hamburger …
… okay, wir aus Hamburg sind ja da sowieso so ’n bisschen arrogant veranlagt.
Wenn Sie das so sagen …
Jedenfalls haben wir die Trabbis gesehen, und sie haben uns leidgetan, wie die da mit zehn Mann drin gefahren sind. Das sah ja aus wie bei den Türken. Bei denen saßen ganz früher auch sieben, acht Mann in so kleinen Autos. Ehrlich, das war für mich wie ein ganz anderes Volk.
Haben Sie auch Bananen reingesteckt durch die Fenster?
Nein. Ich hab die ganz lieb behandelt. Ich war auch selbst im Osten, kurz nach der Wende, und ich hab überhaupt keine Probleme gehabt in Leipzig. Wenn du in Ostdeutschland die Sprache beherrscht hast, dann hast du keine Probleme bekommen. Ich hatte sogar eine ostdeutsche Freundin.
Wann haben Sie gemerkt: Da kommen jetzt 16 Millionen Einwanderer, die auch alle Arbeit wollen?
Meine Abiturientenfreunde in der Oberstufe haben Angst gehabt vor der Einheit. Die Unis wurden voll in Hamburg, alle wollten in den Westen, vor allem die gebildeten Leute. Da haben meine Freunde gesagt: Für dich als Türke wird’s eh keine Chance geben.
Aber Sie hätten doch studieren dürfen.
Ja, aber einen Job bekommen? Hätte ich damals gewusst, dass es eine Globalisierung geben wird, sodass du überallhin kannst, dass Bildung letztendlich Freiheit bedeutet, dann hätte ich natürlich meine Schule beendet. Und wäre ich kein Gangster geworden, aber dann war ich schon zu tief drin in dem ganzen Mist. Aber um es mal klar zu sagen: Die Einheit ist vollkommen in Ordnung. Aber man hätte das fairer und gerechter machen können.
Wann kam der Moment, wo Sie gemerkt haben: Die armen Kreaturen, die Ihnen eben noch leidgetan haben, werden für Sie Konkurrenten?
Man hat gemerkt, dass die bevorzugt wurden – bei allen. Viele Westdeutsche hatten vielleicht auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Ostdeutschen, weil man das Glück hatte, mit den Amerikanern und Engländern neu starten zu können, nicht mit den Russen.
Viele Ostdeutsche haben sich nicht bevorzugt gefühlt, im Gegenteil.
Versteh ich nicht. Die Menschen im Westen haben nach 1990 echt große Lasten auf sich genommen. Man hat den Solidarzuschlag eingeführt, den übrigens auch jeder Migrant bezahlt hat, der gearbeitet hat. Deshalb ist es sehr hart, natürlich gerade für die arbeitenden Migranten, zu hören: Die Türken nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Obwohl, ich kann es auch ein wenig verstehen.
Was?
Die Ostdeutschen kamen rüber und sahen Türken mit Mercedes oder Opel. Die dachten: Wir haben’s doch eher verdient, weil wir Deutsche sind.
Missgunst?
Klar, Megafutterneid. Und die Forderung, ganz, ganz schnell alles haben zu wollen. Deswegen hat der Kohl das auch eingelöst mit dem 1:1-Umtausch Mark gegen DDR-Mark, wo heute alle sagen, das war ökonomisch falsch. War aber nun einmal nicht anders möglich, die Menschen zu beruhigen. Damit die nicht ins Extreme verfallen und natürlich schön CDU wählen.
Dabei haben Ihre Eltern mit dafür gesorgt, dass im Osten vieles saniert und gebaut werden konnte.
Vielleicht sollte man das den Schülern in Ostdeutschland auch mal sagen, wenn die ein bisschen rechtsextrem oder türkenfeindlich eingestellt sind. Das hat mich auch an Sarrazin aufgeregt. Vor allem dieser Satz, der etwa so geht: Die Türken sind nicht produktiv, außer im Obst- und Gemüsehandel.
Natürlich bekommen einige eine Zeit lang Hartz IV oder arbeiten am Obststand, im Dönerladen oder beim Onkel im Kiosk – aber viele machen das nach tausend abgelehnten Bewerbungen. Und dann schimpft noch jemand auf sie, dass die nicht produktiv sind. Das ist, psychisch gesehen, als ob jemand am Alexanderplatz am Boden liegt und alle treten noch mal rein.
Haben Sie die Ostdeutschen jemals als Ausländer wahrgenommen? Es gibt ja diesen Begriff des Migranten im eigenen Land.
Das waren für mich immer Deutsche. Ostdeutsche, klar. Nicht Ausländer.
Aber warum? Sie kamen aus einem anderen Land, mit einer anderen Kultur, einem anderen politischen System.
Aber es war ein Land vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit einer gemeinsamen Geschichte. Koreaner sind für mich auch Koreaner, ob Nord- oder Südkoreaner.
Aus Ihrer Sicht ist es also gar nicht verständlich, dass viele Ostdeutsche sich in der Bundesrepublik fremd fühlen?
Nein. Wir haben eine Kanzlerin, wir haben einen Bundespräsidenten aus Ostdeutschland – mehr geht nicht. Und Matthias Sammer ist ein hohes Tier im Fußball und übrigens ein Superkerl, der im Fußball viel getan hat, gerade für Leute mit Migrationshintergrund.
Warum haben sich Ostdeutsche und Migranten eigentlich nie zusammengetan gegen die Mehrheitsgesellschaft. Und gesagt: Wir mischen jetzt hier mal den Laden auf?
Ostdeutsche und Migranten?
Ja.
Boah, nee, das geht, glaube ich, nicht.
Warum nicht?
Na ja, eigentlich habe ich auch immer so gedacht – im Grunde sitzen wir doch im selben Boot. Aber die Ostdeutschen wollen das nicht. Ich glaube, dass die Ostdeutschen den Wessis beweisen wollen, dass sie bessere Deutsche sind.
Sind Sie auch Deutscher?
Ob ich Deutscher bin? Äh – ich bin alewitischer Hamburger.
Typisch – bloß kein Schwarzrotgold!
Ich bin Europäer. Wir leben doch jetzt in Europa. Deutscher? Von mir aus. Hamburger Deutscher.
Warum trauen Sie sich nicht zu sagen: Ich bin Deutscher, was sonst?
Meine alewitische Bescheidenheit? Man möchte sich nicht aufdrängen.
Sie haben auf einer Veranstaltung gesagt, dass Deutscher zu sein für viele migrantische Jugendliche gleichbedeutend sei wie schwach sein. Haben Sie Angst, als schwach zu gelten?
Ich hab vor nichts Angst, nur vor Gott. Wenn ich sage: Ich bin Deutscher, ist das komisch. So weit ist das Land noch nicht. Wenn ich sage, ich heiße Cem Gülay, sagt immer irgendwer: Und woher kommst du? Wieso sprichst du so gut deutsch? Du bist doch Türke, oder? Tausendmal gehört. Ich kann nichts nehmen, was mir nicht von der Mehrheitsgesellschaft angeboten wird.
Wäre hier nicht nehmen besser denn geben?
Selbst Markus Lanz sagt, er habe als Südtiroler einen Migrationshintergrund. Der „Tagesthemen“-Mann Ingo Zamperoni hat viele Hassmails bekommen, weil er sich als Deutschitaliener bezeichnete. Warum soll ich sagen, ich bin Deutscher, wenn nicht mal ein Italiener das sagen kann?
Also dürfen die Ostdeutschen, die erst seit 20 Jahren hier sind, sagen, deutsch zu sein – und Sie, dessen Familie viel länger hier lebt, dürfen das nicht?
Es gibt doch auch so viele Deutsche, gerade aus dem linken Lager, die „Ich bin Deutscher“ zu sagen immer als ganz schlimm empfunden haben. Die sagen: Ich bin Berliner, ich bin Bayer. Sie wollen unbedingt von mir hören: Ich bin Deutscher, oder was?
Nein. Im Grunde genommen bestreiten Sie aber, dass Wasser nass ist, so deutsch, wie Sie auf uns wirken.
Ja, man sagt mir schon, dass ich unglaublich deutsche Verhaltensmuster habe. Nörgeln …
Wären Ihre Eltern stolz auf Sie, wenn Sie sich zum Deutschsein bekennen würden?
Wenn ich mich zum Deutschtum bekennen würde?
Deutschsein.
Ich glaube, wenn ich Deutscher gewesen wäre, richtiger Deutscher, dann hätte ich hier alles schaffen können. Aber das ist mir verweigert worden. Ich wäre vielleicht Außenminister. Die Ostdeutschen haben es bis zur Kanzlerin und bis zum Bundespräsidenten geschafft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“