: Autofahren à la libanaise
Sag mir, was du fährst, und ich sage dir, wer du bist: Ein Beiruter Rapper erklärt, wie das mobile öffentliche Leben funktioniert
von WAEL KODEIH
Auto fahren lernte ich mit fünfzehn. Damals, 1994 in Beirut, war der Krieg gerade zu Ende, und die Straßen der südlichen Vororte waren genauso ramponiert wie der alte Honda meiner Mutter. Mein „Fahrlehrer“ Nadim war gut vierzehn Jahre älter als ich. Wir brauchten nur die Autoschlüssel abzugreifen und uns zwischen den zerstörten Betonsilos der Vorstadt durchzuschlängeln. Je holpriger die Fahrbahn war, desto mehr Spaß machte uns die Fahrerei.
Zu jener Zeit entdeckte ich die Bedeutung der Autos für Beirut. Eine ganze Gesellschaft, ein ganzer Code verbirgt sich hinter diesen rollenden Maschinen, die einem doch eigentlich nur Transportmöglichkeit sein sollen. Eigentlich – aber in Beirut besteht ein inniges Verhältnis zwischen der Persönlichkeit des Fahrers oder der Fahrerin und seinem oder ihrem Fahrzeug. So gesehen könnte man die gesamte libanesische Gesellschaft von einem Stuhl auf einem der Kreisverkehre Beiruts aus überschauen. In einer halben Stunde sieht man da zahlreiche Kategorien von Fahrzeugen, von sozialen Schichten und viele andere Phänomene. Listen wir doch mal auf:
Erstens die Tussi im Geländewagen: Das sind (immer) verheiratete Frauen im Kostüm, geschminkt vom Kopf bis zu den Füßen, überall Silikon, und ihre einzige Beschäftigung ist das Shopping.
Zweitens der Zigarre rauchende Herr im 600er-Mercedes mit getönten Scheiben: Das sind mehr oder weniger bedeutende Männer, mal mehr, mal weniger aus der Politik, die den Status des Mercedes-600-Fahrers durch die getönten Scheiben, die Zigarre im Mund und eine besorgte Miene über die Zukunft ihres Bankkontos raushängen lassen.
Drittens Zorro im BMW (beziehungsweise die Rambos mit surround sound system): Das sind junge Leute, die sich gegenseitig am Pioneeraufkleber auf der Heckscheibe ihrer BMWs erkennen. Sie hören Dancefloor, bis zum Anschlag aufgedreht, wenn sie mit hundert Stundenkilometern durch die kleinsten Straßen Beiruts rasen.
Viertens der kleine, schnauzbärtige Papa im Datsun: zumeist ehrenwerte Personen, Angestellte, die sich in Arbeit stürzen, um zu überleben.
Füntens Papas Söhnchen auf Ecstasy im Audi: Studenten, die auf die Übernahme von Papas Unternehmen in zehn Jahren hinstudieren.
Sechstens Taxifahrer: Von ihnen kann man am besten die guten alten libanesischen Schimpfwörter lernen.
Siebtens die kleinen Klugscheißer im Peugeot: Das sind die jungen Kerle, die sich dank ihres auf Pump gekauften 206 leicht in die höhere Gesellschaft einschmuggeln.
Achtens hübsche junge Damen im Golf: Schwer zu befriedigen, binden sich diese Mädchen an ihren Freund nur, wenn er mehr Qualitäten als ihr Golf Modell 2003 mit Vollausstattung zu bieten hat.
Neuntens Bärtige im Volvo: Die Scheichs oder Mitglieder der Hisbullah haben eine besondere Vorliebe für die guten alten, fetten Volvos der Achtzigerjahre, solide und robuste Karren, die sie vor jedem Angriff schützen.
Zehntens der Bornierte in einem beliebigen alten Fahrzeug (wie ich!): Das sind die Dickschädel, die einen alten, Furcht erregenden Wagen geerbt und sich in den Kopf gesetzt haben, ihn wiederzubeleben. Mit dem Ergebnis, dass eher sie ihn transportieren als er sie.
Nach dieser Klassifizierung versteht man, dass das Auto – nach der Religion – der libanesische Personalausweis ist. Es dient auch der Selbstdarstellung. Jeder Typus hat eine eigene Art und Weise, sich des Autos in seinem Sinne zu bedienen. Die Hupe ist bei uns zum Beispiel ein Kommunikationsmittel. Als Neuling in Beirut könnten Sie den Eindruck gewinnen, dass alle irgendwann oder irgendwie einfach hupen. Falsch!!! Das ist alles überlegt, in Beirut hat jeder Laut seine Bedeutung.
Ein Beispiel: Wenn Sie auf der Straße gehen und ein kurzes „Tüt-tüt“ hinter sich hören, ist das nichts anderes als ein Sammeltaxi. Wenn Sie den gleichen Ton gute zwölf Minuten hören, können Sie sicher sein, dass es immer noch dasselbe Sammeltaxi ist, absolut dazu entschlossen, Sie an ihr Ziel zu bringen. Wenn Sie zweimal den gleichen Lärm hören, dann sind das zwei Sammeltaxis, die sich darum streiten, Sie irgendwohin zu bringen.
Sollten Sie selber fahren und ein kurzes Hupen von etwa zwei Sekunden hören, dann bedeutet das: „Könntest du mich bitte vorbeilassen.“ Wenn es vier bis fünf Sekunden dauert, heißt das: „Los, beweg dich endlich.“ Und wenn es über fünf Minuten dauert, bedeutet das: „Aus dem Weg, du Arsch!“ Normalerweise wäre es nun klug, ihn vorbeizulassen, sofern dies irgend möglich ist. Meistens jedoch stehen Sie vor einer roten Ampel, wenn hinter Ihnen einer hupt.
Jetzt kommen wir also zu dieser absurden Verkehrsbehinderung: der roten Ampel! Es ist doch ein Vergügen, kaltblütig und lächelnd eine rote Ampel zu überfahren. Ich kann Ihnen diese Freude, dieses Gefühl der Allmacht gar nicht beschreiben – es gibt nichts Vergleichbares. Doch, wenn ich darüber nachdenke, gibt es noch etwas Besseres: die Einbahnstraße eine ganze Straße lang in die falsche Richtung zu fahren. Wie viele von euch haben das schon gemacht? Und wie viele von uns? Zu viele, aber niemals genug.
Warum wir Einbahnstraßen entlangfahren? Weil wir vielleicht keine Lust haben, um das ganze Viertel herumzufahren? Um schneller zu sein? Falsch! Wir fahren darauf ab, wir treiben es gern auf die Spitze, wir spielen gern Arschloch, wir lieben das Risiko. Und um zu behaupten, dass wir eine verbotene Zone durchquert haben. Meine Erfahrungen sind in etwa die gleichen: Es verschafft einem eine Mischung aus Angst, Freude und Allmacht. Es ist ein bisschen, als würde man gleichzeitig „Scream“ und „Rambo“ anschauen, um es mit unseren amerikanischen Freunden zu sagen. Aber lassen wir jedem seine eigenen Fantasien: Für die einen sind es die Hollywoodschinken mit ihren unsinnigen Budgets; uns genügt es, eine rote Ampel abzuledern (solange es niemandem wehtut!).
Übersetzung aus dem Französischen von Hans Schiler und Tim Mücke WAEL KODEIH, Jahrgang 1979, ist Rapper aus Beirut und singt in der Band Aks’ser (arabisch für „Durchfahrt verboten“). Sie ist während des Festivals DisORIENTation im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu hören