Auswilderung von Bartgeiern: Flugstunden im Nationalpark
Einst hat der Mensch den Bartgeier in den Alpen ausgerottet. Jetzt kehrt der riesige Greifvogel zurück. Nächste Station: Bayern.
Jetzt also soll der Bartgeier in seiner alten bayerischen Heimat wieder eine neue finden. Im Nationalpark Berchtesgaden haben sie bereits eine große Felsnische auf 1.200 Metern Höhe vorbereitet. 20 Meter lang, herrliche Aussicht. Aus einer speziellen Zuchtstation in Spanien, der größten ihrer Art, werden also am 9. Juni zwei junge Bartgeier in den Tiergarten Nürnberg gebracht, der ebenfalls auf die Nachzucht von Bartgeiern spezialisiert ist. Hier werden die beiden Küken von den Experten beringt und und mit kleinen Sendern versehen, bevor sie tags darauf nach Berchtesgaden gebracht werden – diesmal mit dem Auto.
Die Bezeichnung Küken sollte einen dabei nicht in die Irre führen: mit kleinen flauschigen Bällchen hat das nichts mehr zu tun, was die Helfer des Landesbunds für Vogelschutz (LBV) dann da den Berg hinauftragen und in die vorbereiteten Nester setzen. „Letztlich sind die Vögel bereits ausgewachsen und wiegen so sechs bis sieben Kilo“, erklärt Toni Wegscheider, der die Auswilderung für den LBV in Berchtesgaden leitet. „Die sind etwa so groß wie ein Schwan.“
Und das ist auch gut so. Denn mit ihren rund 90 Tagen sind die Tiere auf der einen Seite zwar aus dem Gröbsten raus und brauchen keine Wärme von ihren Eltern mehr. Auf der anderen Seite können sie aber noch nicht fliegen – was bedeutet, dass sie noch ein bisschen Zeit haben, sich die Umgebung gut einzuprägen und als ihre Heimat abzuspeichern. So ist es wahrscheinlich, dass sie auch später hierher zurückkehren. Was allerdings noch Aufgabe der Eltern wäre und nun der Mensch übernehmen muss, ist das Füttern. Bis in den Spätsommer hinein werden die Vogelschützer täglich Futter auslegen.
Wieder 300 Bartgeier in den Alpen
Dass das Unterfangen gelingt, daran hat Wegscheider jedoch keine Zweifel. Denn auch wenn es in Deutschland – von gelegentlichen Überfliegern mal abgesehen – seit ihrer Ausrottung keine Bartgeier mehr gibt, so ist das Wiederansiedlungsprojekt alpenweit schon sehr gut erprobt. In Frankreich, der Schweiz, Österreich und Italien, überall wurden die Tiere seit Ende der 1980er Jahre mit großem Erfolg ausgewildert. Auf rund 300 Exemplare wird die Population in den Alpen mittlerweile schon geschätzt. 1998 schlüpfte dann erstmals wieder ein Bartgeier in freier Wildbahn. Mittlerweile schlüpfen jährlich 30 bis 40 Tiere, während nur noch 20 ausgewildert werden.
Dabei hat es sich als absolut notwendig erwiesen, die Geier noch als Küken auszusetzen, um sie auf ihre neue Heimat zu prägen. In den 1970ern hat man noch den Fehler gemacht, wilde, erwachsene Bartgeier in Afghanistan einzufangen und in der Schweiz auszusetzen. Keine gute Idee. „Das Experiment ist krachend gescheitert“, berichtet Toni Wegscheider. „Die sind verhungert und verschollen.“ Inzwischen ist man schlauer und weiß, wie es geht. Wegscheider selbst war schon bei etlichen Auswilderungsaktionen in Österreich und der Schweiz dabei.
Jetzt also Bayern. In Berchtesgaden sollen in den nächsten zehn Jahren jährlich zwei oder drei Geierküken ausgewildert werden. Sobald die „Kleinen“ sich selbst versorgen können, machen sie sich auf Wanderschaft. In einem Gebiet von rund 10.000 Quadratkilometern sind sie in den nächsten Jahren unterwegs. Sollten sie in dieser Zeit keinen Partner finden und in dessen Heimat sesshaft werden, dürften sie mit fünf, sechs Jahren in die Region um Berchtesgaden zurückkehren und sich dort niederlassen – so lange, bis sie dort mit einem Artgenossen, der wiederum auf seiner Wanderschaft vorbeikommt, eine Beziehung eingehen. Eine Beziehung, die dann ein Leben lang halten wird.
Vogelschützer wollen Trittsteine schaffen
Und das kann lange dauern. „Ein Weibchen hier ganz in der Nähe, die Alexa, ist 1988 ausgewildert worden“, erzählt Wegscheider. „Die brütet immer noch, die ist topfit.“ In Gefangenschaft würden Bartgeier über 50 Jahre alt. Zumindest 40 Jahre dürften auch in freier Wildbahn realistisch sein, schätzt der Biologe.
Mit rund tausend Tieren dürfte der Bestand in den Alpen gesichert sein. Ein Ziel, das in zehn bis zwanzig Jahren erreicht sein könnte. Letztendlich geht es den Geierschützern um einen durchgehenden Korridor von den Pyrenäen bis in die Türkei. „Wir wollen mit unserem Projekt Trittsteine schaffen, wo die Geier sich komplett über ihr Gebiet austauschen können“, erklärt Wegscheider. „Dann passt auch die Genetik wieder.“
Ein solcher Trittstein soll nun auch Berchtesgaden werden. Welche tragende Rolle ihnen dabei zukommt, wissen die beiden Jungvögel in Spanien freilich noch nicht. Sie wissen noch nicht einmal voneinander, sitzen in abgetrennten Gehegen. Erst am 9. Juni werden sie sich in Nürnberg kennenlernen. Auch das Geheimnis ihres Geschlechts wird erst dann anhand einer vor dem Abflug genommenen Blutprobe gelüftet werden können.
Immerhin: Über den Migrationshintergrund der beiden ist man sich schon jetzt im Klaren. Denn wer aufgrund der spanischen Herkunft glaubt, es müsse sich um zwei der noch in den Pyrenäen beheimateten Geier handeln, irrt. Die Sache ist komplizierter. „Die Spanier sind Asiaten“, sagt nämlich Toni Wegscheider, und das hat nichts mit mangelnden Geografiekenntnissen zu tun. Tatsächlich geht keines der in den Alpen wieder angesiedelten Tiere auf die Bestände zurück, die in Europa überlebt haben, zum Beispiel in Griechenland, auf Korsika oder eben in den Pyrenäen. Grundstock für die heutige Alpenpopulation waren 15 asiatische Wildfänge, die vor ein paar Jahrzehnten in verschiedenen europäischen Zoos saßen.
Bartgeier sind Knochenfresser
Aber ob nun Asiaten oder Europäer, die Vögel sind sich ohnehin sehr ähnlich, haben nirgends eine eigene Unterart gebildet. Und es sind diese Tiere, die Menschen wie Toni Wegscheider so unglaublich faszinieren: „Allein durch diese Größe, diese unglaublich majestätische Gestalt mit den geschwungenen, falkenartigen Flügeln und dem langen markanten Schwanz“, schwärmt er.
Und die interessanten Verhaltensweisen: dass sie Knochen auf Felsenplatten zerschellen lassen, um sie dann schlucken zu können, oder dass sie sich selbst in rotem Schlamm mit großem Enthusiasmus rötlich färben. „Niemand weiß, warum die das machen. Ein superfaszinierendes Tier!“ Es begleitet Wegscheider seit Anfang seiner Karriere. Schon sein erstes Praktikum im Studium war bei einem Bartgeierprojekt in Österreich. „Als ich da vor 20 Jahren als Futterträger die gefrorenen Schafköpfe für die Geier den Berg raufgetragen hab’, hätte ich nie gedacht, dass ich später mal praktisch vor meiner Haustür Leiter einer Geieraussiedlung sein darf. Das hätte ich mir nicht schöner aussuchen können.“
Lämmergeier hat man den Bartgeier früher auch genannt. Und da schwingt schon mit, was dem harmlosen Vogel letztlich um die vorletzte Jahrhundertwende herum zum Verhängnis wurde: die Mär, er mache sich über die Tiere der Bauern her. Sogar Babys soll er sich das eine oder andere Mal geschnappt haben. Ist natürlich totaler Unsinn; in Wirklichkeit ist der Bartgeier ein reiner Aas-, genau genommen sogar ein Knochenfresser. Vor allem die Überreste mittelgroßer Säuger wie Schaf, Gams oder Steinbock verspeist er. Abgeknallt wurde er trotzdem.
Jetzt wird man sich auch in den bayerischen Alpen wieder an ihren Anblick gewöhnen müssen. Nein: dürfen. Denn das Schöne an dem großen Vogel ist aus Sicht von Naturliebhabern nicht nur, dass er so harmlos ist, sondern auch, dass er sich gerne zeigt. „Bartgeier sind sehr neugierig“, erzählt Toni Wegscheider. „Sie fliegen regelmäßig in sehr geringer Höhe über Bergsteiger hinweg und schauen, was die da machen.“ Vermutlich dasselbe: schauen, was die da machen.
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