Austritt aus der Istanbul-Konvention: Des Herrschers Angst vor Frauen
Erdoğans Dekret zum Austritt aus der Istanbul-Konvention zog massive Proteste von Frauen nach sich. Wovor fürchtet sich der türkische Präsident?
O h, wie verletzlich ist doch die deutsche, weiße Frauenseele“ entfuhr es der türkischen Exilantin in Berlin, als die Nachrichten vom EU-Türkei-Gipfel die Runde machten. Tayyip Erdoğan, der türkische Staatspräsident, hatte die Präsidentin der Europäischen Kommission düpiert. Ursula von der Leyen entfuhr ein „Ähm“. Sie hielt nach einer Sitzgelegenheit Ausschau und nahm schließlich fernab der Männer auf einem Sofa Platz. Sofa-Gate provozierte Reaktionen. Doch warum dieser Spruch der Exilantin? Wollte sie die Identitätsdebatte anheizen? Beginnen wir mit der Spurensuche.
Nur zwei Wochen zuvor hatte Erdoğan per Dekret den Austritt der Türkei aus der sogenannten Istanbul-Konvention vollzogen. Die Istanbul-Konvention von 2011 ist eine europäische Menschenrechtskonvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Sie wurde 2011 vom türkischen Parlament einstimmig (!) ratifiziert. Ein völkerrechtlich bindender Vertrag.
In der Türkei diskutierten nicht nur kleine, intellektuelle Zirkel über die Konvention, sondern das ganze Land. Angesichts der massiven Zunahme von Gewalt gegen Frauen, Femiziden und schrecklichen Videos in den sozialen Netzwerken über Männergewalt wurde die Istanbul-Konvention zum politischen Kampfbegriff. Wenn Gerichte mit abstrusen Begründungen Vergewaltiger auf freien Fuß setzten, gab es jetzt Massenproteste.
Am Tag nach dem Dekret Erdoğans wurden vier Frauen von Männern ermordet. Mit Spruchbändern „Wir schweigen nicht. Wir habe keine Angst. Wir ordnen uns nicht unter“ durchbrachen Tausende Frauen die Polizeibarrieren in Istanbul. Der Bürgermeister von Bilecik ließ Plakate drucken. Frage: „Vor wem schützt die Istanbul-Konvention?“ Antwort: „Vor der Gewalt des Ehemannes, des Ex-Ehemannes, des Bruders, des Vaters, des Vorgesetzten, des Lehrers, des Polizisten.“
Empörung im ganzen Land
Der Innenminister zürnte, Polizisten rissen die Plakate herunter. In der ägäischen Stadt Denizli nahmen Esmaeil Fattahi, Leili Faraji, Zeinab Sahafi und Mohammad Pourakbari Kermani – politische Flüchtlinge aus dem Iran – an einer Kundgebung für die Istanbul-Konvention teil. Sofort kamen sie in Abschiebehaft. „Warum reden alle über Sofa-Gate und nicht über die IranerInnen?“, fragte die Exilantin. „Widerwärtig“.
Auf der weiteren Suche nach dem Grund ihrer Empörung stieß ich auf ein dickes, gebundenes Buch. Es ist vor wenigen Monaten in der Reihe „Politische Theorie in der modernen Türkei“ des İletişim-Verlags mit dem Titel „Feminismus“ erschienen. Der Sammelband umfasst 880 Seiten, die kleingedruckte Bibliografie macht fast 50 Seiten aus. Ein Streifzug vom Osmanischen Reich bis zur Gegenwart: Von den linken, feministischen Zeitschriften, die nach dem Militärputsch 1980 entstanden sind, bis hin zu islamischen und kurdischen Frauenbewegungen der Gegenwart.
Die Institutionalisierung in Form von Frauenhäusern und Gender Studies an den Universitäten wird hier kritisch reflektiert, ebenso die heutige Fragmentierung der Frauenbewegung. Wer das Buch liest, wird sich schnell bewusst, welche Dynamik die Frauenfrage in der Türkei hat.
Das Regime hatte stets erfolgreich oppositionelle politische Bewegungen als „Terroristen“ abgestempelt und kriminalisiert. Doch wie mit einer Bewegung umgehen, die sich gegen Männergewalt richtet, die zuletzt über 400 Frauen das Leben im Jahr kostete? Umfragen zeigen, dass selbst Anhänger Erdoğans für den Fortbestand der Istanbul-Konvention sind. Eine schwierige Situation also für die Herrschenden. Da man Gewalt gegen Frauen nicht öffentlich propagieren kann, versucht man sich verstärkt in Homophobie. Die Istanbul-Konvention versuche Homosexualität zu normalisieren, sagt Erdoğans Sprecher Altun.
Ich weiß nicht, ob Erdoğan Respekt vor von der Leyen hat. Angst vor den Frauen in der Türkei hat er allemal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr