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AusstellungDie Beine von Marlene und Steffis Schuh

100 Jahre in 100 Objekten: Im Oldenburger Schloss ist das kollektive Gedächtnis der (West-)Deutschen zu besichtigen. Es wird diffuser, je näher die Gegenwart rückt.

Das kollektive Gedächtnis: Mecki (1949).

Weihevolles Halbdunkel. Heruntergelassene Jalousien sorgen für die gerade noch erlaubte Lichtintensität. Wie altes Pergament sieht er aus: vergilbt, leicht speckig glänzend, kaum abgewetzt. Wunder produzieren Reliquien, das gilt auch für das mythische Wiedererwachen des deutschen Sportpatriotismus, bekannt als "Wunder von Bern".

Der Ball aus dem legendären WM-Endspiel ist derzeit im Oldenburger Schloss zu verehren. Er repräsentiert das Jahr 1954 in der Ausstellung "100 Jahre - 100 Objekte", in der das Landesmuseum für Kunst und Kultur den Versuch unternimmt, das kollektive Gedächtnis der (West-)Deutschen darzustellen.

Mit einem Exponat für jedes Jahr sind damit fast alle Jubiläen des Super-Gedenkjahres 2009 elegant bedient: vom Weltkriegsbeginn über die deutsche Teilung bis zur Wiedervereinigung. Trotzdem schaffen es die Kuratoren Siegfried Müller und Michael Reinbold, die Balance zu halten zwischen Politischem und Privatem, den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts und dem kleinen persönlichen Leben, das vor diesem Hintergrund auch irgendwie weiterging.

Es gibt noch mehr Kontaktreliquien zu sehen, doch keine reicht an die Aura des Wunderballs heran: Grau und unscheinbar wirkt die Uniform des Hauptmanns von Köpenick (1906). Es erfordert Fantasie, sie mit dem Brimborium aufzuladen, das in Preußen alles Militärische umgab und den Streich des Wilhelm Voigt erst möglich machte. Der Parka von Schimanski (1981), eine umgeschneiderte und beige gefärbte Militärjacke, wirkt im Original kein bisschen versifft und schwitzig. Hat den etwa jemand gebügelt? Und das Drehbuch zu "Die Sünderin" (1951), das Hildegard Knef auf einem Beweisfoto an sich drückt, ist ein so sprödes Erinnerungsstück an den saftigen Skandalfilm, dass man dahinter eine ironische Absicht vermuten möchte.

Ähnlich steht es mit "Der blaue Engel" (1930): Marlene Dietrich, weiß Kurator Reinbold, erinnerte sich gar nicht gerne an den Film. "Sie fand sich zu dick." Fast alle potenziellen Devotionalien hat sie vernichtet, bis auf die Pustekarte: jene Autogrammkarte der Tänzerin Lola, bei der Marlenes Beine nur mit ein paar Federchen bedeckt sind. Lägen sie nicht unter Glas, könnte man sie durch Pusten lüpfen.

Die Tennisschuhe von Steffi Graf (1988) sind die letzten in der Reliquien-Reihe. Danach wird es sichtlich schwieriger, das kollektive Gedächtnis auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wenn es wahr ist, dass mit Michael Jackson die letzte Pop-Ikone gestorben ist, dann fehlte es schon zwei Jahrzehnte vor seinem Tod an verbindlichen Symbolen.

Standen die Wunder von Bern (1954) und Lengede (1963) für Ereignisse, die die Fernsehnation kollektiv und simultan miterlebte, weisen schon die VHS-Kassetten (1982) und der erste Apple Mac (1984) in der Ausstellung darauf hin, wie sehr sich die Mediengesellschaft seitdem individualisiert hat - identitätsstiftend ist hier nur noch die Darreichungsform. Die Salier-Ausstellung in Speyer (1992) und der fünfzigste Geburtstag des "Spiegel" (1997) endlich, die die Neunziger repräsentieren sollen, dürften nur ein paar Bildungsbürgern als prägende Ereignisse in Erinnerung geblieben sein.

Selbst Kriege und Katastrophen, die sich unweigerlich ins Gedächtnis aller einbrennen, scheinen sich in einer globalisierten Welt stets irgendwo anders zu abzuspielen. Ob und wie man sie wahrnimmt, bleibt der selektiven Aufmerksamkeit des Mediennutzers überlassen.

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