Ausstellung: Städtische Realitäten
Der Kunstverein Wolfsburg präsentiert die junge, international vernetzte Kunstszene von Buenos Aires und erzählt dabei Geschichten von den Straßen.
WOLFSBURG taz | Im Jahr 2006 musste die argentinische Künstlerin Ana Gallardo zusammen mit ihrer Tochter kurzfristig ihre Wohnung in Buenos Aires aufgeben, denn die Vermieterin wollte sie selbst nutzen. Nach einer Odyssee durch wechselnde Quartiere bei Freunden und Verwandten fand Gallardo 2007 endlich eine bezahlbare neue Wohnung - in der war allerdings kein Platz für ihre alten Möbel.
Deshalb arrangierte Gallardo diese nostalgischen und von der Tochter geliebten Stücke auf einen Karren und radelte einen Sonntag lang mit dem Gefährt durch die Straßen der Stadt. Ihr Video von dieser Aktion, "Casa Rodante", ist zurzeit in einer Ausstellung in Wolfsburg zu sehen: Zusammen mit den Arbeiten von zehn weiteren Künstlern oder Gruppen erzählt es "Geschichten aus den Straßen" von Buenos Aires.
Kuratorin Anne Kersten verbrachte 2007 sowie nochmals 2010 durch Stipendien des Goethe-Instituts einige Zeit in der argentinischen Hauptstadt. Ihre Kontakte in die junge und international orientierte Kunstszene des Landes hat sie nun für diesen Wolfsburger Querschnitt aktiviert. Es geht ihr explizit nicht um eine kunsthistorische Sichtung, ihr Fokus liegt auf Ausdrucksformen in der Tradition politischer Konzeptkunst, die sich mit dem Alltäglichen und Phänomenen der Stadt beschäftigen.
Die sind in der auf 13 Millionen Einwohner geschätzten Metropole vielfältig. Und sie sind global vergleichbar: So gibt es in Buenos Aires seit gut zehn Jahren Ambitionen, in einem aufgelassenen Hafendistrikt einen modernen und hoch verdichteten Stadtteil aus dem Boden zu stampfen - ähnlich der Hafencity in Hamburg oder natürlich den Londoner Docklands. Azul Blaseotto thematisiert diese "Zona Liberada" mit all ihren - ökologischen - Problemen in einem Video.
Auch die Gruppe m7red, studierte Architekten und wegen ihrer fundierten interdisziplinären Arbeitsweise auch gern zu Symposien nach Deutschland eingeladen, zeigt per Video einen neuen städtischen Ballungsraum entlang des verseuchten Flussbeckens Matanzas-Riachuelo. Im Rahmen der Flusssäuberung werden dort Strategien für eine grünere Zukunft erprobt, und m7red nun geht sozialen und städtische Problemstellungen nach und erstellt eine Kartografie für den Distrikt.
Dass mit insgesamt acht Videos diese Form in der Ausstellung vorherrschen, ist dem knappen Budget geschuldet, das keine aufwendigen Transporte größerer Kunstobjekte gestattet hätte.
Einen interessanten Kunstimport steuert da die deutsche Installationskünstlerin Katinka Pilscheur bei. Auch sie hat 2008 in Buenos Aires gearbeitet und brachte einige Gebinde Lackfarben mit, die dort für technische Einrichtungen im städtischen Außenraum verwendet werden.
Charakteristisch soll der milde Grünton namens Verde Illusion sein, die Grüne Illusion, den Pilscheur von einer Autolackiererei zu einem zweieinhalb Quadratmeter großen, monochromen Farbfeld auftragen ließ. Aber auch die beiden anderen Farben tragen schöne Namen: Esmeralda, eine tieferes Grün, und Gris Vision, ein gräulich verblasster Ton.
Allen ausgestellten Künstlern, ob argentinisch, italienisch oder deutsch, ist eine teilnehmende Faszination für ihren - zeitweiligen - Lebensraum Buenos Aires gemein: ein Bewusstsein für die spezifische, lange kolonial und nun international geprägte städtische Kultur, die einen unendlichen Schatz an Erzählungen und Bildern zu bergen scheint.
Um diesen immer wieder und neu zu heben, versucht beispielsweise der Fotograf Alberto Goldenstein, seiner eigenen Stadt zu begegnen wie ein Fremder, sich einen exotischen Blick auf sie zu bewahren. Heraus kommen Fotos wie stille Dokumente, die städtische Realität mit mystischer Atmosphäre überlagern.
"Buenos Aires - Historias de las calles / Geschichten von den Straßen": bis 5. Februar, Kunstverein Wolfsburg Begleitend zeigt das Duo Graw Böckler Filmarbeiten aus und über Buenos Aires: bis 8. Januar, Raum für Freunde
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