Ausstellung in Lugano: Wie David Weiss zur Avantgarde kam
Nahe Lugano trafen sich ab den 1920ern Intellektuelle. Die Ausstellung „Der Traum von Casa Aprile“ in Lugano erinnert an die Zeit von David Weiss dort.
 
Ruhig ragt das MASI Lugano, das Museo d’arte Svizzera italiana, mit seiner grünlich schimmernden Natursteinfassade, über den leeren Platz am Ufer des Luganersees: direkter Blick auf Italien. Hinter dem Museum liegen sauber-beschauliche Gassen, in ihnen reihen sich Boutiquen internationaler Luxusmarken an typisch schweizerische Uhrenhersteller und Spezialitätenläden für das pochende Tourist:innenherz.
Die Sattheit des Reichtums erdrückt die Inspiration. Angesichts dessen fällt es schwer zu glauben, dass nur wenige Kilometer weiter, Richtung Monte San Salvatore, im Tessiner Bergdorf Carona vor rund hundert Jahren ein traditionsreiches künstlerisches und durchaus progressives Vermächtnis entstand.
„David Weiss. Der Traum von Casa Aprile“. MASI Lugano, bis 1. Februar 2026
„David Weiss. Der Traum von Casa Aprile. Carona 1968–1978“ heißt die aktuelle Ausstellung im MASI, die dieses nun erstmals ins Licht der Öffentlichkeit rücken will – und mit ihm das Frühwerk des Künstlers David Weiss, spätere Hälfte des legendären Künstlerduos Fischli/Weiss.
Übersichtlich, und doch dicht
Im ersten Raum der übersichtlichen, doch dichten Ausstellung setzt erst mal Hermann Hesse den Ton, überraschenderweise mit etwas hilflosen, leicht kindlich anmutenden Aquarellen: Ansichten des Bergdorfs Carona, entstanden Anfang der 1920er Jahre. Mit breitem, naiven Pinsel versuchte sich der Schriftsteller zuweilen an leicht überlagernden geometrischen Formen, wie ein farbig-amateurhafter Lyonel Feininger.
 
Aus einer privaten Sammlung sind die Aquarelle hierhergekommen, das zugehörige Schildchen verschweigt, dass sie normalerweise in Carona selbst hängen, genauer in der Casa Constanza, dem als „Papageienhaus“ bekannten Gebäude, welches Hesse ausführlich 1919 in „Klingsors letzter Sommer“ beschrieben hatte. 1917 wurde es von Théo Wenger, dem Großvater mütterlicherseits der Surrealistin Meret Oppenheim, erworben, noch heute befindet es sich in Familienhand.
In den 1920er Jahren entwickelte sich das Dorf zu einem wichtigen Treffpunkt von Künstler:innen und Intellektuellen, neben Hesse verbrachte auch Bertolt Brecht hier Zeit. Ab 1933 wurde das Dorf zum Exilort. Nicht nur für die Familie Oppenheim/Wenger, sondern auch für die Schriftsteller Lisa Tetzner und Kurt Kläber, die dort später, in den 1950ern die Casa Pantrovà errichteten, die schnell in La ca del pan trová – „das Haus des gefundenen Brotes“ umbenannt wurde. In den 1960ern kauften Meret Oppenheim und ihr Bruder Burkhard Wenger die Casa Aprile, in direkter Nachbarschaft zur Casa Constanza. Die drei privaten Häuser wurden der Mittelpunkt einer illustren Künstler:innengesellschaft.
Eben dort verbrachte der junge Schweizer David Weiss seine Sommer – im Tausch gegen Renovierungsarbeiten – und brachte andere Künstler seiner Generation mit: Urs Lüthi, Anton Bruhin und Peter Schweri gingen ein und aus. Blickt man auf die Ausstellungsexponate, die aus dieser Zeit im zweiten Ausstellungsraum des MASI zusammengetragen wurden, begreift man, dass ein Hauch amerikanisierter Monte Verità durch die Berggassen geweht haben muss.
Sex, Drogen, Revolte – auch in den Tessiner Bergen
Cut-up und Crumb waren auch in den Tessiner Bergen angekommen: sexuelle Befreiung, Arbeitsverweigerung, Studentenrevolte, Drogen. Und auch der spielerische Humor, für den Fischli/Weiss später bekannt werden sollten, ist schon da. Weiss kopiert in seinen Zeichnungen Disney-Comics, lässt in ihnen Minnie-Maus in die „Beagle Kommune“ einziehen, in der sie Goofy, stellvertretend für das Großkapital, entgegenschleudert: „Ich hatte die ganze Scheiße bis zum Hals. Ich liebe, wann und wen ich will, klar?!“ Eine Wand ist gefüllt mit seinen „Metamorphosen“ – Blätter über Blätter, in denen sich Kugelschreiberlinien vom einen ins andere verwandeln: von der Schlange zur Muschel, zur Venus, zum heiligen Sebastian, zum Skelett und vieles, vieles mehr.
Weiss ist ein begabter Zeichner, ein wirklich lustiger noch dazu. Und doch bleibt die Ausstellung, speziell sein Werk betreffend fast zu flüchtig, zu skizzenhaft, um wirklich zufriedenzustellen. Stärker tun dies einige der fotografischen Arbeiten seines Jugendfreundes Urs Lüthi, wie die eines großformatigen übereinander gehängten Diptychons von 1970: „Selbstporträt mit Landschaft“, so der Titel des Werks, auf dem der schlafende Lüthi unter einem schwarz-weißen Bergmassiv ruht.
Arbeiten von Lisa Tetzner, Karl Hofer, Maria Braun, Esther Altorfer, Anton Bruhin, der gänzlich unbekannten Maria Gregor, natürlich Meret Oppenheims und viele weitere Positionen aus und um Carona ergänzen die Schau. Als besonders gewinnbringend entpuppt sich dabei jene des Autors und „Nachtmaschinen“-Verlegers Matthyas Jenny, der unter anderem Jörg Fauser und Jürgen Ploog veröffentlichte.
Unscheinbar von der Wand baumeln Nachdrucke seiner Gedichte. Auf schmalen Schreibmaschinenlettern verbindet er dort ganz nebensächlich das Leben mit der Zeit; die Stadt mit dem Bergdorf: „auch lauer frühlingsregen / kann meine verklebten lungen / nicht mehr zum blühen bringen.“ Und streuen so jene Prise trotzigen Rotz in die Ausstellung, die die Avantgarden erst anziehend macht. Kaum zu glauben, dass es sie auch hier gab.
Die Recherche wurde unterstützt vom MASI Lugano.
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