Ausstellung im öffentlichen Raum: Finger in Wunden
In Braunschweig liegt wieder die Kunst auf der Straße: Auch wenn sein Konzept nicht immer klar wird, gelingen dem "Experiment: Stadtraum" allerlei verblüffende Momente.
BRAUNSCHWEIG taz | Immerhin, eine Kunsthochschule gibt es in Braunschweig – sogar die zweitgrößte der Republik. Dazu zwei Kunstvereine, das Museum für Photographie und als Einzelkämpfer Herrn Hahn mit seiner „Galerie auf Zeit“ in wechselnden Leerstandsimmobilien. Dennoch: Für eine Universitätsstadt dieser Größenordnung sind Auftritte bildender Kunst der Moderne rar gesät. Diesen Umstand hat das städtische Kulturdezernat durchaus erkannt, und Abhilfe sucht es seit Jahren zu schaffen: mit sommerlichen Rundgängen zur Kunst im öffentlichen Raum.
Sehr hoch gelegt wurde die sprichwörtliche Messlatte dabei mit dem allerersten Projekt, dem Lichtparcours 2000, parallel zur Expo in Hannover: Dessen sorgfältig inszenierte Lichtinstallationen an und unter 13 Brücken der Oker lockten wahre Besucherscharen in das bis dato kaum wahrgenommene Landschaftskontinuum. Man radelte und paddelte des nachts an den Ufern entlang zur Kunst. Es folgte, 2004, ein etwas lieblos geratener Parcours im Zuge der Bewerbung Braunschweigs zur Kulturhauptstadt 2010 – die ebenfalls nicht auf die erhoffte Gegenliebe stieß. Auch der zweite Lichtparcours 2010 verpuffte irgendwie: Das Konzept war kaum stadträumlich gedacht, die einzelnen Stationen zu wenig auf die jeweilige Örtlichkeit angestimmt.
In diesem Jahr gibt es nach 2011 nun eine zweite Auflage des terrestrischen Parcours „Experiment: Stadtraum“ – mit vagem kuratorischem Konzept: Es geht um den öffentlichen Raum, die Stadt als Ort zum Leben.
Laut dröhnt der Straßenlärm in den Museumspark am Theater, dem Mittelpunkt der diesjährigen Projekte. Es ist Ende Mai und schon einmal sehr warm. Paare liegen im Rasen, scheinen sich kaum zu interessieren für die Installation der Schweizerin Sophie Guyot, die „Maison Flux“: textilbespannte Gerüst-Stellagen mit integriertem trockenem Geäst: Was aus der Ferne wenig einladend wirkt, entfaltet beim Nähertreten mit seinen leisen Klängen – bei Dunkelheit auch beleuchtet – ein mystisches Eigenleben. In kleiner Gruppe ist das Durchschlendern dieses Freiluft-Hausgrundrisses ganz anregend. Er wäre jedoch wohl zu wenig robust für einen echten nächtlichen Massenansturm.
Der würde ohnehin keine weiteren nachtaktiven Kunststationen vorfinden, man hätte also am Tage wiederzukommen. Und kann dann Platz nehmen im „Caravan“ von Kevin van Braak. Der Niederländer persifliert konsequent den (Camping-)Tourismus: Der entfaltete Wohnanhänger bringt praktischerweise gleich sämtliche Landschaftsaccessoires mit, für die man ja eigentlich die Reise antritt – die tropische Flora ist aus Plastik, versteht sich.
Das Mobil ist allerdings während normaler Tageszeit verwaist, genauso wie die „Stadtmöbel DN_100“: Der Hamburger Jungdesigner Oliver Schau hat dafür Fahrradständer oder ähnliche technische Infrastruktur mit gelbem Drainagerohr umflochten, Durchmesser 100 Millimeter. Legere Stadtliegen entstehen so, zum Rumfläzen für ein junges, urbanes Publikum. Eben das aber scheint in Braunschweig rar zu sein. Bleiben also noch „Yellow Arrow“ und „Bluebird“, zwei Objekte zum Anschauen, mit denen sich Stefan Rohrer unseren Fetisch Mobilität vorgeknöpft hat.
Der „blaue Vogel“ besteht aus einem gedehnten Motorroller, der sich, gleich einem futuristischen Manifest geläuterter Denkungsart, um einen vorhandenen Laternenmast schlingt. Und nun ganz beiläufig an einem Durchgangsort steht, Leute schlendern vorbei, einige schauen, rätseln: Ist das ein Unfall? Die Ironie erschließt sich vielleicht nicht sofort, dafür fesselt das Objekt, hat man es erst einmal entdeckt, umso eindringlicher. Der große Bruder des Rollers, der „gelbe Pfeil“, ist ein verzerrtes Automobil mit echsenhaft langem Körperende. Es umschlingt ein mickriges, innerstädtisches Bäumchen.
Abseits des konstruktiven Aspekts – wie diese Objekte überhaupt um ihre Umschlingungsopfer gefunden haben – hat Rohrer damit intuitiv zwei Orte markiert, an denen man dann doch Braunschweiger Menschen antrifft, die Angebote des öffentlichen Raumes jenseits notwendiger Bewegungsverrichtungen nutzen. Neben dem blauen Motorroller nämlich liegt, in nun schöner Kollision, der etwas duffe, wenngleich gut frequentierte Außenbereich eines Steakhauses, Typ kariertes Tischtuch auf rustikalem Mobiliar. Man könnte also getrost von einem ästhetischen Unfall sprechen.
Sein gelbes Auto wiederum rückt dem Rande eines Rundbrunnes am ECE-Shoppingschloss nahe. Selbst noch ganz ohne Wasserfüllung, wie derzeit der Fall, scheint dieser Ort ausreichend attraktiv für frühsommerliches Niedersetzen. Und das gibt dann doch zu denken: Sind die Braunschweiger so abgestumpft, dass man ihnen alles anbieten kann? Oder: Wie mies müsste der öffentliche Raum eigentlich noch werden, damit sie ihn freiwillig nicht mehr nutzen mögen?
Es läge wohl daneben, wer solche Fragestellungen als aufrührerischen Appell hinter den künstlerischen Eingriffen vermutete. Was sich aber zeigt: Selbst nur temporär entliehene Außenraumkunst versteht auf unterhaltsame Art, die Finger in Wunden zu legen. Und das könnten den Menschen von Braunschweig auf die Sprünge helfen – mehr als alle Hochschulen und Museen mit ihrer gepflegten künstlerischer Langeweile.
„Experiment: Stadtraum 2012“: bis Ende Juni, Braunschweig, Innenstadt. Podiumsdiskussion „Temporäre Kunst – Die Gestaltung öffentlicher Räume“: 5. Juli, 19 Uhr, Haus der Wissenschaft
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