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Ausstellung im Zürcher Migros MuseumDer Körper als Währung

Zusammenbrechende Frauen, öffentlich masturbierende Männer: Eine Zürcher Schau zeigt, was passiert, wenn Körper zum Kunstobjekt werden.

In der Ausstellung: Vanessa Beecrofts' „VB35 Performance“ Foto: Migros Museum für Gegenwartskunst/Lorenzo Pusterla

Typisch Eskimo! Kaum zeigt man ihm zum ersten Mal in seinem Leben eine Schallplatte, schon steckt er sie in seinen Mund und versucht wie ein Kleinkind daran herumzukauen. Geradezu entzückend primitiv erscheint der Inuit Nanook in dieser berühmten Szene aus „Nanook of the North“, einem der ersten langen Dokumentarfilme der Welt. Aber Moment: Scheint es auf den zweiten Blick nicht so, als folge der Protagonist beim Nagen an der Schallplatte bloß einer Anweisung des Filmemachers? Und jagt er nicht an anderer Stelle mit traditionellen Waffen, obwohl die Inuit zu seiner Zeit eigentlich schon Gewehre benutzten?

Jene zweifelhafte Darstellung von Nanook als edlem Wilden bespricht der israelische Videokünstler Guy Ben-Ner in „Escape Artists“ mit einer Gruppe Migranten in einem Flüchtlingsheim in Holot, Israel. Knapp zwei Jahre lang hat Ben-Ner mit den hier dauerhaft stationierten Menschen Workshops über filmische Manipulationstechniken abgehalten. Dabei geht es nicht nur darum, wie sich Eindrücke durch bestimmte Schnitte und Montagen vermitteln lassen – sondern auch darum, wie das repräsentationspolitische „Andere“ durch das Medium Film konstruiert wird. Die praktisch im Flüchtlingslager gefangenen Migranten erlernen so einen Weg, alternative Realitäten zu konstruieren und konstruierte Realitäten kritisch zu hinterfragen.

Als eindeutig ermächtigendes Projekt gehört „Escape Artists“ zu den unkontroversesten Werken, die in „Extra Bodies“ im Migros Museum in Zürich zu sehen sind. Kein Wunder, schließlich ist die Thematik der Ausstellung heikel: Es geht um den Einsatz des „anderen Körpers“ in der zeitgenössischen Kunst, um die Arbeit mit wegen ihrer biosozialen Rolle ausgewählten Statisten. Menschliche, in vielen Fällen marginalisierte Körper werden hier zum Element eines kapitalistischen Tauschgeschäfts. Dass diese Praxis zu Zeiten der wirtschaftlichen Deregulation der 90er Jahre einen Boom erlebte, erscheint dem Ausstellungskurator Raphael Gygax nur logisch: „Der Körper wurde damals zur Währung – und damit auch für den Künstler als Ressource verfügbar.“

Als wohl berühmtester und umstrittenster Vertreter jener Praxis eröffnet Santiago Sierra, der seine Statisten gegen ein geringes Entgelt tätowierte, in Pappkartons steckte und öffentlich masturbieren ließ, die Ausstellung. Eine Schwarzweißfotoserie dokumentiert eine Performance aus dem Jahr 2000, in der zwei Asylsuchende einen langen Holzpfahl für mehrere Stunden waagerecht zur Galeriewand halten – nach dem Schweizer Arbeitsgesetz eine der wenigen minderwertigen Arbeiten, die Geflüchtete übernehmen dürfen.

Die Ausstellung

Bis 4. Februar, Migros Museum, Zürich

Nackte Beine und gebeugte Körper in Stilettos

Auch Vanessa Beecroft treibt die Darsteller ihrer Performances an ihre körperlichen und psychischen Grenzen: In ihren Performances müssen Models so lange starr in einer Pose verharren, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen. Damit inspirierte sie zwar unter anderem Kanye West zu den Modenschauen für seine Yeezy-Kollektion, erntete aber auch harsche Kritik, unter anderem von dem feministischen Künstlerkollektiv Toxic Titties, das 2001 eine Beecroft-Performance in der Gagosian Gallery unterwanderte.

Im Migros Museum ist von alldem wenig zu sehen. Eine Fotografie zeigt lediglich nackte Beine und gebeugte Körper in Stilettos, die Gesichter der Models sind abgeschnitten. Damit entspricht die fotografische Dokumentation von „VB35 Performance“ den Ansprüchen der Ausstellung: Der andere Körper soll nicht noch weiter skandalisiert und, zum Beispiel durch eine Live-Performance, zum Event-Spektakel gemacht werden. So bleibt genug Raum, sich die Frage zu stellen, die über fast all den gezeigten Arbeiten schwebt: Darf man gesellschaftliche Ausbeutungs- und Machtverhältnisse reproduzieren, um sie zu kritisieren?

Als Gino de Dominicis bei der Venedig-Biennale von 1972 einen Mann mit Downsyndrom als eine Art Tableau vivant in eine Ecke setzte und einige seiner älteren Werke betrachten ließ, löste er einen Skandal aus. Trotz der gelegentlichen Faszination für die von psychisch kranken oder inhaftierten Menschen geschaffene Art brut hatte der von der Norm abweichende Körper des jungen Mannes namens Paolo Rosa in der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts keinen Platz – und wurde wenige Tage nach der Eröffnung aus der Biennale verbannt.

Angesichts Ólafur Elíassons Lampenbastelfabrik bei der diesjährigen Biennale wirft de Dominicas Arbeit neue Fragen auf. Elíasson lässt Geflüchtete unter den Blicken der Besucher „Green Lights“ anfertigen, die später für einen guten Zweck weiterverkauft werden. Zwar wird der marginaliserte andere Körper hier nicht als Schockwerkzeug, sondern als selbstbeweihräuchernde Manifestation der Offenheit und Toleranz des Kunstfeldes benutzt – objektiviert wird er dennoch in beiden Arbeiten.

Zu Werkzeugen und Statisten denunzierte Körper

Dem emigrierten Körper, der die gesellschaftspolitischen Diskurse der letzten Jahre maßgeblich prägte, ist im Migros Museum eine ganze Ausstellungsetage gewidmet. Zu sehen ist hier unter anderem eine Videoarbeit des polnischen Künstlers Artur Żmijewski. Für „Glimpse“ bereiste er Flüchtlingslager in Berlin, Paris, Calais und Grande-Synthe.

In wackligen Schwarzweißaufnahmen fährt die Kamera die Körper der Geflüchteten hinab, zeigt sie beim Fegen und beim Aufhängen ihrer vom Regen durchnässten Kleidung. In einem brutalen Akt der Assimilation streckt der Künstler schließlich seine eigene Hand ins Bild und bemalt das Gesicht eines Flüchtlings mit weißer Farbe.

Dass die Kunst die Statistenrolle marginalisierter Körper nicht nur reproduzieren und damit reflektieren, sondern auch umkehren kann, zeigt Jonas Staats „New World Summit“. Staats wurde eingeladen, in Rojava, der demokratischen Föderation Nordsyriens, ein öffentliches Parlamentsgebäude zu errichten. In dem kugelförmigen, nach allen Seiten hin geöffneten Gebäude soll eine direkte Demokratie praktiziert werden, die den ansässigen Kurden ermöglicht, sich durch eine direkte Präsenz von der Rolle als „Extra Bodies“ zu lösen, die ihnen unter anderem im Kampf gegen Assad zuteil wurde. Den zu Werkzeugen und Statisten denunzierten Körpern einen Raum zur Entfaltung bieten – sicherlich die unproblematischste Weise, künstlerisch mit ihnen umzugehen.

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2 Kommentare

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  • Zitat: "Der Körper wurde damals zur Währung – und damit auch für den Künstler als Ressource verfügbar."

     

    Ich würde mal behaupten, dass dieser Zustand sicher Kritikwürdig ist, aber ganz bestimmt ist das kein jüngeres Problem menschlicher Kulturen.

  • Was für eine Frage! Nein, man darf gesellschaftliche Ausbeutungs- und Machtverhältnisse natürlich nicht reproduzieren, um sie zu kritisieren. Es geht schließlich um das Neue in der Kunst und nicht um (miese) Kopien des Alltäglichen.

     

    Künstler sollen ihr Publikum nicht belehren. Sie sollen es inspirieren. Zum Machtausüben und zum Ausbeuten ihrer Mitmenschen aber lassen sich die Menschen schon von Arschlöchern inspirieren durch deren angeblichen Erfolg. Dazu brauchen sie keine Künstler.

     

    Menschen zu Objekten, zu Werkzeugen zu degradieren, ist immer falsch. Und zwar schon deswegen, weil wir alle selber „Element eines kapitalistischen Tauschgeschäfts“ sind. Auf die eine oder andere Art sind wir alle Teil des „Systems“, Missbrauchserfahrungen inklusive. Wer mit seiner „Kunst“ ein Abspalten, ein Auslagern dieser Erfahrung auf „Fremde“ ermöglicht, der wird nicht nur seinen „Rohstoff“ entmenschlichen, sondern auch sein Publikum. Außer einem pubertären Bedürfnis nach Skandalen befriedigt so-jemand höchstens sein eigenes narzisstisches Ego. Die Welt verändern wird er nicht.

     

    Eine fruchtlose Kunst ist keine. Weihrauchkessel schwingende Selbstdarsteller sollten in eine Kirche ihrer Wahl eintreten, finde ich. Wer wirklich Künstler sein will, der muss die Eigenerfahrungen seines Publikums ansprechen. Diese Art der Fairness allerdings hat ihren Preis. Schließlich ist nicht nur die digitale Welt des 21. Jahrhunderts kapitalistisch, sondern auch die reale. Wer nicht alle verfügbaren Ressourcen rücksichtslos ausbeutet, der hat es schwer im Konkurrenzkampf um die Almosen derer, die sich Kunst dann leisten, wenn sie sonst schon alles haben und/oder profitieren wollen davon.

     

    Es ist wie überall: Bei den zehn Prozent, die bewusst die Regeln brechen, weil ihr Geschäftsmodell auf Rechtsbruch aufbaut, hilft nett sein nicht. Die tarnen Mist als Innovation. In Wahrheit aber verschaffen sie sich einen unfairen Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Inspiration? Von denen nicht!