Nichts denken, wirken lassen

Im Hamburger Kunstverein stellt Oscar Murillo jetzt seiner malerischen Erfolgsästhetik gekonnt ein Bein

Oscar Murillo, Horizontal Darkness in Search of Solidarity, 2019, Installationsansicht Foto: Fred Dott/Kunst­verein Hamburg

Von Falk Schreiber

Einer trägt einen Blaumann. Eine andere eine Schürze, ein weiterer einen Anglerhut, auch Gummistiefel sind weit verbreitet bei den Gestalten, die das Obergeschoss des Hamburger Kunstvereins bevölkern und mal interessiert, mal spöttisch, mal gelangweilt das Werk Oscar Murillos betrachten. „Effigies“ nennt der Künstler die lebensgroßen Puppen, die auf die Arbeiterschicht seiner kolumbianischen Heimat verweisen und die ein zentrales Element der Ausstellung „Horizontal Darkness in Search of Solidarity“ darstellen: Insti­tu­tionskritik mittels grob gefertigter Stellvertreter.

Murillo, der als Zehnjähriger mit seinen Eltern aus Kolumbien nach London übersiedelte, gilt als Neuerer der Malerei; als solcher zählt er zu den derzeit hoch gehandelten Künstlern, als solcher ist er aktuell für den Turner Prize nominiert. In ­seinen institutionellen Ausstellungen allerdings hinterfragt er den marktgängigen Charakter der Malerei, erweitert ihre Präsen­tation in den Raum. Zum Beispiel mit grob gezimmerten Puppen, die sich über die gezeigte Kunst amüsieren. Vielleicht sollte man sich zu ihnen gesellen?

Der Aufbau in Hamburg ist typisch für Murillo: Das Arrangement wirkt auf den ersten Blick konventionell, teilweise nicht einmal besonders geschickt. Doch dann schleichen sich Irritationen ein: Ist es womöglich gar kein kuratorisches Unvermögen, dass ein großformatiges Bild aus der „Manifestation“-Serie (2019) publikumsunfreundlich zwischen Deckenträger und Aufzugsschacht eingeklemmt ist? Weswegen wirken die beiden Videos „Condition Un­known“ und „Letter from America“ (beide 2019) lieblos in eine Ecke verbannt? Und hat es eine zweite Bedeutung, dass man einige Arbeiten nicht einmal vollständig sieht, weil schwarze, grob geklebte Leinwände im Weg hängen und Teile der Bilder verdecken? Dass man ständig über Kunst zu stolpern droht, weil überall was rumliegt, ein Drahtobjekt, eine Plane? ­Murillo sabotiert seine eigene Ausstellung, und tatsächlich sabotiert er damit auch den Kunstmarkt, von dem der 33-Jährige nicht schlecht lebt.

Hinter der sich selbst im Wege stehenden Malerei nämlich öffnet sich der Raum zu einer Tribüne hin. Auf ihr sitzen ein paar der oben erwähnten Holzpuppen, sie lädt aber auch dazu ein, sich ebenfalls zu setzen, um den ausliegenden Roman ­„Indus­trial Park“ zur Hand zu nehmen, eine 1933 erschienenen Klassen­kampf-Erzählung von ­Patricia Galvão. Die Tribüne ist Teil der Rauminstallation „Col­lec­tive Conscience“ (2015–2019), von Kunstvereins-Leiterin Bettina Steinbrügge als „Agora“ bezeichnet, als Versammlungs- und Debattierort, der während der Ausstellung für externe Projekte geöffnet sein soll.

Kunst ist ein soziales Medium, Abstraktion wird auf ihre Materialität zurückgeworfen

Die Strategie Murillos wird so nach und nach deutlich: Kunst ist ein soziales Medium, Abstraktion wird auf ihre Materialität zurückgeworfen. 2015 nahm er mit seinem Projekt „Frequencies“ an der Biennale von Venedig teil: Mit Leinwänden bespannte Pults sollten an Schulen in über 20 Ländern längere Zeit von den Schüler*innen bemalt werden, zunächst mit bewusst gesetzten Slogans und klar erkennbaren Figuren, später mit Symbolen, abstrakten Zeichen, schließlich mit unterbewusst entstandenen ­Scribbles. Eine dieser Leinwände hängt im Treppenhaus des Kunstvereins: Überbordendes Gekritzel ist da zu sehen, Pac Man, ein Yin-Yang-Symbol, ein Schriftzug „Welcome to City of Hope School“, überwuchert von Farbflächen, die an Monets „Wasserlilien“ erinnern. Ein im ganz naiven Sinne schönes Bild, eigentlich. Aber eines, das seinen Inhalt versteckt: hinter Übermalungen, hinter Abstraktionen.

Das Unterbewusste drängt auch in den „Flight“-Zeichnungen an die Oberfläche, Bilder, die Murillo bis heute regelmäßig während Langstreckenflügen anfertigt. Nichts denken, wirken lassen. Écriture automatique. Und auch hier wieder ein Link, in diesem Fall zum Ausstellungstitel „Horizontal Darkness in Search of Solidarity“. Horizontalität als möglichst wertfreie Weltbetrachtung aus Reiseflughöhe ist ein zentraler Begriff für Murillos Arbeit: Der Äquator etwa ist eine nicht bewertende horizontale Linie, die unter anderem die kolumbianische Heimat des Künstlers durchquert. Die Suche nach Solidarität, die die Ausstellung hier behauptet, versteckt sich entsprechend in der Abstraktion, in den Übermalungen, in schwarzen Flächen und hinter ölgetränkten Leinwänden. Es ist kein Wunder, dass die zentralen Gemälde der Präsentation den Titel „Manifestation“ tragen, auch wenn die reduzierte Farbpalette aggressiv übermalt ist und die Frage, wie sich hier Bedeutung manifestiert, im Schwarz verschwindet. Wie die unterbewussten ­Scribbles der „Frequencies“, die unter dem hübsch anzusehenden Pseudo-Monet versteckt sind.

Vieles an der Hamburger Schau ist mehrfach codiert, ist Bedienen des Markts und Hinterfragen der Marktstrukturen, ist gleichzeitig Kunst und Kunsthandwerk, ist Material und Bedeutung, die sich hinter dem Material versteckt. Und weist am Ende tatsächlich über sich hinaus, auf das Werk einer Nachbardisziplin: Am Ende stöbern Proletarier-Puppen in einem Roman, der in den 1930ern von Frauensolidarität und Klassenkampf erzählen konnte.

Bis 27. Januar, Hamburger Kunstverein