Ausstellung Fotografien des Ruhrgebiets: Nüchtern und zeitlos
Das Ruhr Museum zeigt eine Retrospektive von Erich Grisar. Sie stellt die Region aus der Sicht des Proletariats zwischen 1928 und 1933 dar.
Zum Schluss kann man noch durch die Kohlenwäsche gehen: Zeche Zollverein, Essen-Stoppenburg, 1986 stillgelegt, der Weg geht durch rostige Schütten und Förderbänder. Über eine Treppe aufs Dach, man kann weit blicken: Abraumhalden zerbeulen die Landschaft, viel Brachland. Dazwischen bohren sich Schornsteine in den Himmel. Der Frühling hat ein erstes Grün über das Land geworfen, aber der Blick ist noch gefangen vom Schwarzweiß der Fotografien, die ein paar Etagen tiefer hängen: Erich Grisars Aufnahmen aus dem Revier zwischen 1928 und 1933 werden im Ruhr Museum ausgestellt, eine dokumentarische Schau über das Leben vor fast neunzig Jahren.
Im Ruhrgebiet schaut man gerne zurück, das hat viel mit der Gegenwart zu tun. Die kleine Erich-Grisar-Renaissance schöpft aber auch aus sich selbst heraus Kraft: Grisar, 1898 in Dortmund geboren und dort 1955 gestorben, lernte Kesselschmied und Werkstattzeichner, wurde als Soldat im Ersten Weltkrieg verwundet, dann Pazifist und expressiver Arbeiterdichter. Grisar schrieb Artikel zu Alltagsbeobachtungen, bereiste als Bildjournalist Europa, veröffentlichte 1932 den Bildband „Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa“ beim sozialdemokratischen Bücherkreis – der Band ist gerade vom Klartext Verlag neu aufgelegt worden.
Im Aisthesis Verlag in Bielefeld erschienen in den letzten Jahren Grisars Gedichte, journalistische Arbeiten und biographische Notizen. Vieles davon ist Auslegware proletarischer Kultur. Nach dem Erfolg des „Erich Grisar Lesebuch“ (2012) hat der Verlag ausgewählte Werke, Kindheitserinnerungen und den Kriegsroman „Cäsar 9“ (2015) veröffentlicht. Und gerade eben sein Porträt über Dortmund, den Roman „Ruhrstadt“.
„Ruhrstadt“ ist ein Epos auf das Leben des Pfannenmaurers Jean Brucksain, eine raunende Stimme aus der Vergangenheit: „Der Boden zitterte. Dieser Boden, der bis in tausend Meter Tiefe von Menschen durchwühlt ist, die mit halbnacktem Körper ratternde Preßluftwerkzeuge bedienen, mit denen sie sich tiefer und tiefer in die Kohlenflöze hineinwühlen, die dieses Land so begehrenswert gemacht.“
Von der Arbeit gezeichnet
Für „Ruhrstadt“ fand Grisar 1931 keinen Verlag mehr. Trotz einiger Mühen gelang es ihm nicht, sich im Nationalsozialismus anzudienen. „Cäsar 9“, der Roman über die Zerstörung der Stadt Dortmund im Zweiten Weltkrieg, über Zwangsarbeit, Kriegsheimkehr, Niederlage mochte dann kein Verleger dem Aufbau-Deutschland zumuten.
Bis 28. August, Ruhr Museum, Zeche Zollverein, Essen. Katalog (Klartext Verlag), 19,95 Euro
Nüchtern und zeitlos sind dagegen Grisars Fotografien, die jetzt im Ruhr Museum hängen: Über zweihundert Abzüge der teilweise auf Glasplatten fotografierten Motive. Grisar ist auch hier Autodidakt, gelegentlich blinzeln Einflüsse des neuen Sehens hervor, dabei arbeitet Grisar zentralperspektivischer, seltener mit grafischem Bildaufbau. Heinrich Zilles Ästhetik kann man herausschmecken, ein wenig August Sander. Grisar dokumentiert politische und soziale Verhältnisse.
Von Dortmund, durch Schwerindustrie zur Großstadt angewachsen, geht Grisar los, die Umbrüche, die er hier miterlebte, verfolgt er weiter: Menschen, die zur Arbeit gehen, von ihr gezeichnet sind. Versehrte aus dem Weltkrieg fristen ihr Leben in den Straßen, sind von Zeichen des modernen Verkehrs umtost, von Tramlinien und der Hafenbahn, von Lastwagen und Polizei im Mannschaftstransporter. Ein Lastpferd ist zusammengebrochen.
Der Rhythmus der Stadt
Grisar verlässt selten das Proletariermilieu, der Orgelton ist die industrielle Arbeit, die Bilder beschreiben die Welt, die sie schafft: Menschen bücken sich, werden gebückt, Werbung für ein Waschmittel zwingt sie ins Kostüm, entstellt die Person. Grisar blickt auf sie als Humanist und Aufklärer. Ein Kontrast sind die Vergnügungen, selten gibt es Innenaufnahmen aus Cafés oder Varietebühnen, Grisar bleibt lieber auf den Straßen, auf der Kirmes, beim Kartenspiel auf der Parkbank, bei Straßenbauarbeitern, die sich aus Kellen Schlittschuhe banden.
Grisar denkt in Serien, lotet Themen aus: Straßen- und Brückenbauarbeiten, der Einzug der Moderne als Architektur, als Verkehr. Den Karren der Altwarensammler ziehen noch immer Hunde. Die Reihen beschreiben den Rhythmus auf dem Schlachthof und dem Wochenmarkt, porträtieren fliegende Händler. Immer wieder rückten sie schwere Tätigkeiten, harte Umstände ins Bild: Über der Siedlung Kaiserstuhl hängt ein rußiger Himmel, baumlose Straßen führen geradewegs zum Werk. Wer zu diesen Bildern das Ruhrstadt-Porträt liest, hört das Pfeifen der Sirenen, kreischende Maschinen, schwere Schläge aus Eisen. Die Armen klauen Schlammkohle aus Absatzbecken.
Ein besonderes Kapitel sind Grisars Kinderbilder: Auch Kinder müssen Kohlen schippen, Blumen verkaufen, Pferdedung auflesen. Zwischendurch spielen sie ungezwungen, sind sich selbst überlassen. Die Kamera nimmt Teil am Spiel, pflügt mit ihnen durch Brachen, auf denen bald neue Wohnblocks entstehen. Grisar schaut nie auf sie herab, er nimmt sie so ernst wie jeden anderen auch.
Auf dem Dach der Zeche Zollverein, Weltkulturerbe, Museum, Event-Location, merkt man, wie Grisars Aufnahmen den Romanen alle Nostalgie austreiben. Unten liegt die Landschaft still. Nichts zittert.
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