: Ausnahmezustand in Prag
Tausende Demonstranten lieferten sich Straßenschlacht mit der Polizei. Beide Seiten zeigten das volle Programm: von Molotowcocktails bis Tränengas
aus Prag SVEN HANSEN, MAIKE RADEMAKER und ULRIKE BRAUN
Der Männerblock der italienischen Autonomen-Gruppe „ya basta“ ist gut vorbereitet: Gekleidet in weiße Overalls, die mit Schaumstoff und Kissen ausgepolstert sind, tragen sie aneinander gebundene und mit einer blauen Plane verdeckte Autoschläuche als Schutz gegen Polizeiknüppel vor sich her. Die Köpfe der vermummten Italiener sind durch Bau-, Fahrrad-, Motorradhelme oder selbst gemachte Schaumstoffmützen geschützt. Manche haben Gasmasken oder einen Mundschutz aus Furcht vor Tränengas aufgesetzt.
Die Demonstranten rufen „Mörder!“ oder „Liquidiert den IWF!“. Doch die Polizisten hinter dem sechsfach hüfthohen Gitter beeindruckt das zunächst nicht. Sie haben die 300 Meter lange und bis zu 30 Meter hohe vierspurige Brücke vor dem Kongresszentrum, in dem heute die Jahrestagung von IWF und Weltbank offiziell eröffnet wurde, zudem mit vier Panzern abgesperrt. Dahinter stehen vier Wasserwerfer, drum herum fünf Hundertschaften in schwarzen Kampfanzügen mit Knüppeln, Helmen, Schilden und Gasmasken.
Am Rand stehen Polizisten in normalen Uniformen und halten weiße Transparente hoch. Darauf steht in Englisch und Deutsch: „Bürger, die Polizei der Tschechischen Republik gibt Ihnen bekannt, dass Ihre Versammlung gesetzwidrig ist.“ Die Demonstranten werden aufgefordert, den Protest ruhig aufzulösen, andernfalls „setzen Sie sich der Gefahr aus, dass die Ordnungspolizei gegen Sie eingreifen wird“. In der Luft kreisen zwei Helikopter der Polizei, deren Lärm schon schon seit morgens um vier die Bewohner der Stadt nervt. Gegen 13 Uhr werden Schlagstöcke eingesetzt. Tränengas wird abgefeuert. An ein Durchkommen zum Kongresszentrum ist an dieser Stelle nicht zu denken. Später demontieren die Italiener die Polizeigitter. Unter ihre Reihen mischen sich immer mehr britische Trotzkisten. Deren schwarz-weiße Pappplakate mit dem Schriftzug „Socialist Worker“ sind auf Kanthölzer geheftet, die Polizeiknüppeln leicht Paroli bieten können. Die Demonstranten suchen unter der Brücke durchs Tal einen Weg zum Kongresszentrum. Gegen 14.30 Uhr stehen die ersten 800 Demonstranten vor dem von Polizisten in Kampfanzügen und mit Wasserwerfern gesicherten Kongresszentrum.
Dann fliegen die ersten Steine. Die Polizei antwortet mit dem Einsatz von Knüppeln, Wasserwerfern und Tränengas. Manche Demonstranten wollen unbedingt Randale. Die Polizisten schlagen brutal zurück. Es kommt zu ersten Festnahmen. Die Demonstranten und Polizisten weichen abwechselnd vor und zurück. Nach Augenzeugenberichten kommt es zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer Straßenschlacht zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Demonstranten setzten zwei Polizeiwagen in Brand. Die Polizei setzt nach Augenzeugenberichten Gummigeschosse ein.
Am Abend ist es dann so weit: Tausende Demonstranten umzingeln das Tagungszentrum. Sie und die Polizeiabsperrungen sorgen dafür, dass Banker, diverse Finanzminister und Notenbankchefs – zusammen 10.000 Menschen – eingeschlossen sind. U-Bahn und Busse stellen den Verkehr ein. Mitarbeiter von IWF und Weltbank raten dringend davon ab, das Konferenzgelände auf eigene Faust zu verlassen. Die Poliei weist diejenigen zurück, die es wagen, zu Fuß das Gelände verlassen zu wollen. Auch den Gala-Empfang in der Staatsoper wollen die Demonstranten verhindern: Sie postieren sich an der Stadtautobahn. „Die Demonstranten sind uns derzeit zahlenmäßig überlegen“, muss ein Polizeisprecher zugeben.
Zwischen 7.000 und 9.000 Demonstranten beteiligen sich an den Protesten. Bei den Ausschreitungen wurden mindestens 30 Personen verletzt, 20 Polizisten und etwa 10 Demonstranten. Vereinzelt warfen Demonstranten Molotowcocktails auf die Polizisten. Die Kleidung einiger Polizisten fängt Feuer.
Der 16-jährige Jacob Thierauch aus Berlin hat von seinem Schuldirektor für die Proteste in Prag extra schulfrei bekommen unter der Bedingung, darüber einen Vortrag halten. „Ich habe auch mehr Leute erwartet“, sagte er. Ein mit Gas gefüllter riesiger blauer Luftballon mit der Aufschrift „Balls to the IMF“ wird über den Köpfen der Demonstranten hin- und hergestoßen.
In einer Ecke des Friedensplatzes haben die autonomen Sanitäter ein Zelt aufgebaut. Ihr rotes Kreuz ist mit einem Herz verziert. Neben der Bühne steht ein Tisch des „Unabhängigen Medienzentrums“ mit zwei Laptops. Darauf kann jeder seine Nachrichten eintippen, die dann auf der Webseite der Internetagentur der Globalisierungsgegner (prague.indymedia.org) erscheinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen