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Ausgehen und rumstehen von Stephanie GrimmGegen Hinguck-Schocks helfen nur Architekturexkursionen

Leider bin ich architekturblind. Dass die Stadt vielerorts schlimm umgebaut wird, kriege ich oft erst mit, wenn es richtig wehtut: wenn man von der Warschauer Brücke aus auf das Horror­ensemble aus Mall und Verti Music Hall gucken muss. Wo man sich vor gar nicht langer Zeit noch am weiten Blick über die Bahngleise erfreuen konnte.

Nachhilfe im Hingucken, auf dass man sich auf solche Schocks besser vorbereitet, kriege ich ab und zu von M. Unser Ritual be­inhaltet, an Orte zu fahren, die wir beide nicht kennen, und kreuz und quer durch die Straßen zu laufen. Wobei M. Vorwissen mitbringt, weil er zum Thema Stadtplanung viel liest. Er fotografiert dann, was ihm auffällt, schräge Anbauten, seltsame Provisorien. Ich staune, was es alles so gibt. Diesmal steigen wir S-Bahn Hohenzollerndamm aus, Zeitreise ins tiefste Westberlin. Eher in seiner fiesen Variante, die bei der aktuellen Berlin-Nostalgie gerne mal unter den Tisch fällt. Wir laufen zickzack durch die Querstraßen. Was es hier so alles so gibt. Ein Logenhaus der Freimaurer, „Spiegel der Wahrheit“ heißt es. Ein Schaukasten erklärt, worum es ihnen geht. Durch „ehrwürdige rituelle Handlungen“ werden hier „geistige Vertiefung und sittliche Veredlung angestrebt“. Ums Eck wird „Wagenpflege von Hand“ angeboten. Leute, die ihre olle Karre noch Wagen nennen, könnte man auch in einer Zeitkapsel 50 Jahre zurückschießen. Für den Preis einer Autowäsche müsste man in dieser Zeitung einen Tag arbeiten.

Plötzlich stehen wir an einer vertrauten Ecke der Uhland­straße. Unzählige köstliche Nudelsuppen habe ich über die Jahre hier vertilgt. Jetzt ist das „Daruma“, ein kleiner japanischer Laden mit Imbiss, verschwunden. Eine kleine Googelei offenbart: Die Hausverwaltung hat Schuld. Zum Glück gibt es ein paar Meter weiter kurzfristigen Trost. Ein netter Wegelagerer bietet Ginv & Tonic an. Erst neulich gab auf der Hermannstraße ein Hipster-Sprituo­sen-Hersteller lecker Rum aus: Start-ups, von denen man etwas hat. Hier wird Gin beworben, in dem Essenzen von Pflanzen stecken, die Alexander von Humboldt seinerzeit aus dem südamerikanischen Dschungel mitgebracht hat. Der Wegelagerer gibt zu, dass das mit den immer ambitionierten Gins irgendwie auch ziemlicher Quatsch ist. Schmecken tut es trotzdem.

Gleich ist alles noch ein bisschen surrealer. Das Geschäft in der Düsseldorfer Straße, das „#OHNEHEULEN“ heißt, sieht wohl wegen der Anmutung des Schriftzugs irgendwie nach Bestattungsinstitut aus. Das wäre ja nun wirklich mal rustikaler Humor. Beim genaueren Hinsehen entpuppt es sich als Gaming-Shisha-Bar, die aber schon wieder pleite ist. Ein paar Straßen weiter dann eine Art Re­plik: das Café „Nah am Wasser“. Es erfreut sich dafür großen Zuspruchs.

Als Kontrastprogramm gibt es am Samstagabend einen vertrauten Ort, den vielleicht idyllischsten in Kreuzberg: das Freiluftkino im Innenhof des Bethanien. Für mich das erste Mal in diesem Jahr. Es ist wunderschön wie immer. Und kalt. Wir haben mehr Klamotten an als im tiefsten Winter und frieren trotzdem. Aber es gibt ja noch Pferdedecken vom Kino. So wie die Macher dieses Orts überhaupt alles richtig machen. Und vor der Leinwand fliegen Fledermäuse herum. „Roma“, der Film, ist auch super.

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