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Ausbildungssuche während CoronaUnvermittelt und unausgebildet

Mit der Pandemie stürzt die Zahl der Ausbildungsverträge auf ein Rekordtief. Wer sind die Menschen, die auf der Strecke bleiben? Und was hilft?

Azubi an der Werkzeugmaschine Foto: Rupert Oberhäuser/Caro

Berlin taz | Mahdi N. beginnt seinen Arbeitstag morgens um sechs. In einem Fünfsternehotel auf der Berliner Friedrichstraße bereitet er das Frühstück vor. Im Februar hat der 28-Jährige aus dem Iran seine Ausbildung zur Fachkraft Gastgewerbe begonnen. Gerade ist er für die Handwerker zuständig, die einen Teil des Hotels renovieren. „Buletten mögen die Bauarbeiter am liebsten“, weiß Mahdi. „Und Rührei. Butter und Brötchen, das reicht ihnen nicht.“ Mahdi möchte später Koch werden. Die Ausbildung zur Fachkraft Gastgewerbe ist der erste Schritt auf dem Weg dorthin.

Die Pandemie hat ein Loch in die Umsätze der Gastronomie- und Tourismusbranche gerissen, auch im Hotel auf der Friedrichstraße. Das spiegelt sich in den Zahlen der Azubis wider: Knapp ein Drittel weniger Ausbildungsverträge wurden laut Statistischem Bundesamt in der Hotelbranche unterzeichnet. Insgesamt fingen im Jahr 2020 465.700 Personen eine duale Ausbildung an, das waren 9,3 Prozent weniger als im Jahr 2019.

Doch weniger Ausbildungsplätze sind nicht der einzige Grund für sinkende Vertragsabschlüsse in der dualen Ausbildung, also bei Ausbildungen, die in Schule und Betrieb stattfinden. Ende September 2020 standen den knapp 60.000 unbesetzten Ausbildungsstellen laut Berufsbildungsbericht fast 30.000 gänzlich unversorgte Be­wer­be­r*in­nen gegenüber – und damit knapp 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Wer sind die Menschen, die auf der Strecke bleiben?

Volkswirt Clemens Wieland befasst sich seit Jahren mit beruflicher Bildung und schulischer Berufsorientierung. „Wer genau die Jugendlichen sind, die unvermittelt bleiben, wissen wir nicht“, sagt der Bildungsexperte der Bertelsmann Stiftung. „Aber wir können davon ausgehen, dass sie überwiegend schwächere Schulabschlüsse haben, was oft mit sozialer Benachteiligung, Migrationshintergrund und unterschiedlichen Vermittlungshemmnissen einhergeht.“

Wo sind die Jugendlichen hin?

Für Wieland gibt es noch ein weiteres Rätsel: Wo die Jugendlichen bleiben, die sich nicht einmal um eine Bewerbung bemüht haben. Auch deren Zahl ist seit der Pandemie gestiegen. Während sich im Ausbildungsjahr 2018/19 noch rund 480.000 Schul­ab­gän­ge­r*in­nen um einen Ausbildungsplatz bemühten, waren es den Zahlen der Arbeitsagentur zufolge im Juli 2021 nur noch 404.400.

Die Vermutung liegt nahe, dass sich viele nicht einmal trauen, sich zu bewerben

Clemens Wieland, Bildungsexperte

An demografischen Entwicklungen liege das nicht, so Wieland. „Die Vermutung liegt schon sehr nahe, dass sie sich nicht einmal trauen, sich zu bewerben, und ihre Chancen schlecht einschätzen.“ Darauf deutet eine Jugendstudie der Bertelsmann Stiftung aus dem Frühjahr 2021 hin. Ihr zufolge schätzen mehr als 70 Prozent der Befragten ihre Chancen bei der Ausbildungsplatzsuche schlechter ein als vor Corona.

Eine Einschätzung, die ihnen während der Pandemie schwer genommen werden konnte. „Während Corona lagen viele Angebote der Berufsorientierung schlicht und ergreifend brach“, sagt Markus Kiss, Leiter des Referats Ausbildungspolitik beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag. „Messen, Schülerpraktika, Besuche von Beratern der Kammern oder Agenturen für Arbeit in den Schulen waren nicht möglich.“ Das erschwere den Jugendlichen nun die Berufsorientierung.

Besonders stark wirken sich die wegbrechenden Angebote laut Bildungsforscher Wieland auf die Jugendlichen aus, die ohnehin benachteiligt sind. Aus unterschiedlichen Studien wisse man schon lange, dass Eltern die entscheidende Beratungsrolle spielten. „Wenn der familiäre Background nicht so da ist und dann auch noch externe Beratungsmöglichkeiten ausfallen, sieht es finster aus“, sagt Wieland.

Schwächere Schü­le­r*in­nen besonders getroffen

Ralf Becker von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stellt fest, dass durch die Pandemie nicht nur viele Berufsorientierungsangebote ausgeblieben sind. Auch gerade die Ausbildungsplätze in Hotellerie und Gaststätten, in denen in der Vergangenheit junge Menschen mit schwächeren Schulabschlüssen untergekommen sind, brechen weg. Und genau bei diesen dürfte die Pandemie Leistungsrückstände noch verstärkt haben, was ihre Vermittlung an Ausbildungsbetriebe erschwert.

An Mahdis Schule, der Berliner ASIG Berufsfachschule, versuchen die Leh­re­r*in­nen das aufzufangen. Ihre Schü­le­r*in­nen besuchen kleine Klassen und bekommen individuelle Förderung. Manchmal aber sind die Vorkenntnisse in den Lerngruppen enorm unterschiedlich: So hat Mahdi an der Berufsfachschule zum ersten Mal in seinem Leben Deutschunterricht, während andere Schü­le­r*in­nen Mut­ter­sprach­le­r*in­nen sind. „Unsere Lehrkräfte stehen da wirklich vor Herausforderungen“, sagt Schulvorstand Arno Schelzke.

Zu den Förderangeboten gehörten zu Lockdown-Zeiten eine Telefonsprechstunde, in den Sommerferien Nachhilfeunterricht, erzählt Schelzke. Hinzu kommt das pädagogische Geschick von Leh­re­r*in­nen wie Petra Ludwig. „Unsere Schü­le­r*in­nen hatten alle ihre Frusterlebnisse“, sagt die pensionierte Lehrerin, die so viel Spaß an der Arbeit mit den jungen Menschen hat, dass sie gerne noch eine Weile weitermachen möchte. „Wir müssen sie erst mal wieder zum Lernen motivieren.“

Ludwig macht das, indem sie die kleinsten Erfolge würdigt, erzählt sie. Im Matheunterricht beginnt sie mit schriftlicher Addition und Subtraktion, nach einem halben Jahr kommen Dreisatz und Zinsrechnung hinzu. Im Deutschunterricht ist das Ziel, dass ihre Schü­le­r*in­nen am Ende der Ausbildung eine fehlerfreie Bewerbung schreiben können. Dafür werden zwei Jahre lang Grammatik und Rechtschreibung gepaukt.

„Wer dranbleibt, schafft die Prüfung“

Dass sie mit den Schü­le­r*in­nen teilweise auf Grundschulniveau anfangen muss, macht sie fassungslos: „Wie kann ich einen Schüler nach zehn Jahren aus der Schule entlassen, der die Grundrechenarten nicht beherrscht?“ An der Förderschule, wo sie früher unterrichtete, sei das das Mindeste gewesen. Doch ihre jetzigen Schü­le­r*in­nen haben sogar hier noch Nachholbedarf. Am Abschluss der Ausbildung hindert sie das nicht. „Wer dranbleibt, schafft die Prüfung“, sagt Ludwig.

Damit das klappt, ist es mit reiner Wissensvermittlung aber nicht getan, weiß Schelzke. „Wir begleiten die Schülerinnen und Schüler auch in Lebensfragen, reden mit Sozialarbeitern oder Eltern“, so der Schulvorstand. Die kleinen Klassen erleichterten das. „Wir haben die Zeit nachzufragen, was los ist, wenn die Schü­le­r*in­nen bedröppelt dreinschauen“, sagt Ludwig.

Sie erfährt von Stress in der Beziehung oder Problemen mit dem Amt. Und kann gut nachvollziehen, dass ihre Schü­le­r*in­nen dann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. „Wir holen sie da ab, wo sie stehen, und bringen sie dahin, wo sie hin sollen“, fasst Ludwig das Schulkonzept zusammen.

Die intensive Betreuung ist bei Weitem nicht die Regel an Berufsfachschulen. Um Schul­ab­gän­ge­r*in­nen zur Ausbildungsreife zu bringen, gibt es allerdings Unterstützung der Bundesagentur für Arbeit. Dazu gehört beispielsweise die sogenannte betriebliche Einstiegsqualifizierung, ein sechs- bis zwölfmonatiges Praktikum, das staatlich bezuschusst wird. Jugendliche und Betrieb können sich kennenlernen, die Chancen auf einen anschließenden Ausbildungsplatz steigen erheblich.

Jugendliche fallen durchs Netz

In der „assistierten Ausbildung“ werden Jugendliche von So­zi­al­päd­ago­g*in­nen und mit Förderunterricht unterstützt, während die Betriebe eine Ansprechperson in organisatorischen Fragen und bei Konflikten mit der Nachwuchskraft zur Verfügung haben. Und im Programm „VerA“, einer Initiative des Senior Experten Service, wird den Auszubildenden eine pensionierte Fachkraft zur Seite gestellt, die sie durch die Ausbildung begleitet. So sollen Abbrüche verhindert werden.

„Gerade die assistierte Ausbildung ist ein Erfolgsmodell“, sagt GEW-Ausbildungsexperte Becker. „Aber dass es sie gibt, ist noch nicht in allen Betrieben angekommen.“ Die Hilfen würden zu selten genutzt, zu viele Jugendliche fielen durchs Netz, brächen ihre Ausbildung ab oder fänden gar nicht erst den Weg zum Betrieb. Den Ausweg sieht er in einer Ausbildungsgarantie.

In Österreich gibt es eine solche Garantie bereits. Wer dort bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz leer ausgeht, kann sich an den sogenannten Arbeitsmarktservice wenden, der in Deutschland der Bundesagentur für Arbeit entspricht. Dieser bemüht sich gemeinsam mit den Jugendlichen um eine Vermittlung.

Wenn die nicht klappt, haben die Jugendlichen Anspruch auf einen öffentlich geförderten Ausbildungsplatz, deren Abschluss der betrieblichen Ausbildung gleichgestellt ist. Ziel ist dennoch, dass sie aus der öffentlich geförderten in die betriebliche Ausbildung wechseln – in der Mehrheit der Fälle mit Erfolg.

Vorbild Österreich?

Berechnungen der Bertelsmann Stiftung zufolge könnten mittels einer solchen Ausbildungsgarantie bis zu 20.000 zusätzliche Fachkräfte pro Jahr ausgebildet werden, wenn – so wie in Österreich – 40 Prozent der Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz die Garantie nutzen und zwei Drittel zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Geht mit der höheren Qualifikation der Bevölkerung auch ein höheres Bruttoinlandsprodukt einher, sollten die zusätzlichen Staatseinnahmen die Ausgaben nach acht Jahren übersteigen, so die Bertelsmann Stiftung.

„Eine Ausbildungsgarantie ist nicht zielführend“, widerspricht hingegen IHK-Mann Kiss. „Es kommt darauf an, dass die Jugendlichen möglichst passgenau für den Arbeitsmarkt ausgebildet werden.“ Eine Ausbildungsgarantie könne dazu führen, dass die Jugendlichen an ihren Wunschberufen festhalten und sich den konkreten Angeboten der Betriebe verweigern. Sie blieben dann nach der Ausbildung ohne Beschäftigung.

Bildungsfachmann Wieland sieht das anders. Staatlich geförderte Ausbildungsplätze müssten eben Fachkräftebedarfen entsprechend angeboten werden. „Bei der Ausbildungsgarantie wird der Wechsel in die betriebliche Ausbildung angestrebt. Sie kann daher auch eine Brückenfunktion einnehmen, wo Azubi und Betrieb nicht von selbst zueinander finden“, sagt Wieland.

„Es ist wichtig, dass die Jugendlichen überhaupt erst mal eine Ausbildung machen“, findet GEW-Mann Becker. „Denn eine Ausbildung bedeutet für sie einen enormen Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung und erhöht ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt – unabhängig davon, ob sie letztendlich in ihrem Ausbildungsberuf arbeiten.“

Sorgen, ob er übernommen wird, muss Mahdi sich nicht. „Es steht schon jetzt zu 99 Prozent fest, dass er seinen Koch im Praktikumsbetrieb machen wird“, sagt Schulvorstand Schelzke. Nach der Ausbildung möchte Mahdi ein paar Jahre arbeiten und dann ein eigenes Restaurant eröffnen. Am liebsten in Berlin. „Ich würde sehr gern hier bleiben“, sagt er. „Berlin ist jetzt wie meine Heimatstadt.“

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