Aus „Le Monde diplomatique“: Sicherheit im Land der Freiheit
Als Anwärter auf das Präsidentenamt kündigte Obama an, den US-Sicherheitsapparat zu bändigen. Was ist daraus geworden?
Vor vier Jahren machte Barack Obama im Wahlkampf um das Präsidentenamt eine Reihe von Versprechen, die ihm nicht zuletzt in Europa große Popularität bescherten: Er wollte das Gefängnis in Guantanamo Bay schließen; er wollte den „Patriot Act“ von 2001 aufheben, der neue Formen der Überwachung von US-Bürgern legalisiert hatte; und er wollte „Whistleblowers“, also Leute, die Missstände in Militär und Geheimdiensten öffentlich machen, vor staatlicher Verfolgung schützen.
Der Kandidat Obama versprach also, einen wesentlichen Teil des nationalen Staatssicherheitsapparats zu bändigen, dessen Umfang und Kompetenzen unter der Bush-Regierung nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 erheblich angewachsen waren. Diese gigantische Bürokratie, die in vielen Fällen niemandem rechenschaftspflichtig war, war 2008 von vielen Wählern der Demokraten als Bedrohung ihrer persönlichen Freiheitsrechte wahrgenommen worden.
Vier Jahre danach existiert Guantánamo immer noch, und die Prozesse vor den dortigen Militärtribunalen gehen weiter. 2011 hat Obama die Verlängerung des Patriot Act abgesegnet. Und das Justizministerium hat aufgrund des Gesetzes über Spionage und Gefährdung der nationalen Sicherheit sechs Ermittlungsverfahren gegen Whistleblowers eröffnet – mehr als doppelt so viele wie unter allen früheren Präsidenten zusammengenommen.
Gleichwohl wäre es falsch zu behaupten, es habe sich nichts geändert. Tatsächlich hat der nationale Sicherheitsapparat unter Obama erheblich an Macht gewonnen. Die Liste von Personen, denen Flugreisen untersagt sind – aufgrund stets undurchsichtiger und oft willkürlicher Kriterien –, ist 2012 auf 21 000 Namen angewachsen; das ist mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Ende 2011 hat der Präsident ein Gesetz unterzeichnet, mit dem er den Verteidigungshaushalt für 2012 absegnete. Zugleich verleiht das Gesetz der Regierung die Befugnis, wegen terroristischer Aktivitäten angeklagte US-Bürger und Ausländer zeitlich unbegrenzt zu inhaftieren. Das bedeutet eine Aushöhlung des elementaren Rechtsprinzips, das Schutz vor willkürlicher Festnahme garantiert.
ist Rechtsanwalt in New York und Autor von „The Passion of Bradley Manning“, New York (OR Books) 2012.
Nachtscanner, so lästig wie unwirksam
Die Obama-Regierung hat darüber hinaus in einer unbekannten Zahl von Fällen die Genehmigung erteilt, im Ausland lebende US-Bürger umzubringen, die nicht direkt in bewaffnete Aktionen verwickelt waren. Dazu brauchte sie diese nur – ohne korrekte rechtliche Verfahren – zu „Terroristen“ zu erklären. Zum Beispiel tötete eine US-Drohne im Dezember 2011 im Jemen den radikalen islamischen Prediger Anwar al-Awlaki und seinen 16-jährigen Sohn sowie den Al-Qaida-Propagandisten Samir Khan. Alle drei waren Bürger der Vereinigten Staaten. Die gezielte Tötung von Nicht-US-Bürgern hat Obama zudem mit dem vermehrten Einsatz von Drohnen in Pakistan, Jemen und Somalia drastisch ausgeweitet.
Wie ist das alles zu erklären? Die Erwartung, dass Barack Obama den Ausbau des Sicherheitsstaats wieder rückgängig machen würde, war nicht völlig naiv und auch nicht ohne historische Vorbilder. Mitte der 1970er Jahre, nach dem Watergate-Skandal und dem Vietnamkrieg, hatte eine selbstbewusste Mehrheit von Demokraten im Kongress gegen den damaligen republikanischen Präsidenten Gerald Ford durchgesetzt, dass die ausufernden Befugnisse der Polizei ebenso zurückgestutzt wurden wie die Spionagetätigkeit der Geheimdienste im Inland. Eingeschränkt wurde dabei auch die Macht der Exekutive im Hinblick auf die Kriegsführung, einschließlich geheimer Operationen im Ausland. Eine ähnliche Entwicklung erwarteten viele Wähler 2008, nachdem Obama im Wahlkampf seine eingangs zitierten Versprechen gemacht hatte.
Die Wähler wurden enttäuscht. So sind unter anderem die Sicherheitskontrollen für die Fluggäste noch lästiger geworden, nachdem auf mittlerweile 140 US-Flughäfen die umstrittenen „Porno-Scanner“ eingeführt wurden. Dabei sehen die meisten Experten in der zeitraubenden Durchleuchtung lediglich ein „Sicherheitstheater“. Und die Aufsichtsbehörde für Transportsicherheit hat inzwischen herausgefunden, dass man die Nacktscanner, für die insgesamt fast 90 Millionen Dollar ausgegeben wurden, ziemlich leicht austricksen kann.(1) Gleichwohl sehen sich Passagiere, die das Scannen verweigern, Prozeduren ausgesetzt, die viele als intimes Begrapschen empfinden.
Am erstaunlichsten aber mutet an, dass unter Obama die Bespitzelung im Inland zur Normalität geworden ist. Heute beschäftigt die Bundesregierung 30 000 Leute, die Telefongespräche innerhalb der USA überwachen. Das Ministerium für Innere Sicherheit hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2002 zur drittgrößten Bundesbehörde entwickelt, deren Personalstärke nur vom Verteidigungsministerium und dem Ministerium für Kriegsveteranen übertroffen wird. Und in Bluffdale im Bundesstaat Utah entsteht derzeit ein 2 Milliarden Dollar teures Zentrum für die Speicherung und Auswertung der inländischen Überwachungsdaten.(2)
Wie stark der Sicherheitsstaat in den letzten elf Jahren angewachsen ist, lässt sich genauso wenig exakt beantworten wie die Frage nach den genauen Aufgaben der neu gebildeten Sicherheitsbehörden und -organe. Eine verwirrende Vielfalt konkurrierender Bürokratien, die alle irrsinnige Summen bekommen, zum Teil aus geheimen Haushaltstöpfen, hat für einen regelrechten Bauboom gesorgt.
Dieser Beitrag ist aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. Die Monatszeitung macht übrigens auch Bücher: Demnächst erscheint ein neuer Atlas der Globalisierung: Die Welt von morgen.
Im Großraum Washington sind 33 Gebäudekomplexe mit rund 1,5 Millionen Quadratmetern Bürofläche entstanden. Die Washington Post schätzt, dass die Sicherheitsausgaben seit dem 11. September 2001 die 2-Milliarden-Dollar-Grenze überschritten haben. Diese ganzen Instanzen unterliegen keiner zentralen Aufsicht. Theoretisch ist für sie zwar der neu geschaffene „Director of National Intelligence“ zuständig, aber praktisch verfügt dieser über keinerlei Macht.
Auch die Vorschriften wurden verschärft. 2011 hat die Regierung 77 Millionen Dokumente für geheim erklärt, das sind 40 Prozent mehr als 2010. Allein schon die Prozeduren zur Festlegung der Geheimhaltungsstufen kosten pro Jahr Milliarden, schätzt William Bosanko, ehemals Direktor der zuständigen Aufsichtsbehörde, des Information Security Oversight Office. Umgekehrt dauert es extrem lange, bis geheime Dokumente freigegeben werden. Ein krasses Beispiel: Die Nationale Sicherheitsbehörde (NSA) hat erst letztes Jahr die Freigabe aller Dokumente aus dem Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 abgeschlossen.
Nur finanzstarke Lobbygruppen mit erfahrenen Anwälten sind in der Lage, mithilfe des legendären Freedom of Information Act (Gesetz zur Informationsfreiheit) den Zugang zu Informationen über den nationalen Sicherheitsapparat einzuklagen, und das auch nur mit begrenztem Erfolg. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass dieser riesige finanzkräftige Apparat keineswegs die strikte Wahrung von Staatsgeheimnissen garantiert. Der Begriff „Geheimhaltung“ wird bereits dadurch strapaziert, dass sich der Kreis der Geheimnisträger fast schon exponentiell ausgeweitet hat.
Sage und schreibe 854 000 US-Bürger haben heute Zugang zu „top-secret“-Dokumenten und etwa 4,2 Millionen Menschen zu Daten mit niedrigerer Geheimhaltungsstufe. Die Anwendung der Geheimhaltungsgesetze ist teilweise lückenhaft. So passiert es immer wieder, dass geheime Informationen von Regierungscomputern auf öffentlich zugängliche Websites gelangen – in der Regel dank des technologischen Know-hows der Kinder jener Generation von Staatsbediensteten, denen die IT-Expertise ihrer Sprösslinge selbst abgeht.(3) Der Historiker Matthew M. Aid, der über die US-Geheimdienste forscht, stieß im Basar von Kabul zufällig auf ausgemusterte Computer des US-Militärs, auf deren Festplatten sich immer noch geheime Dateien befanden.(4)
Trotz intensiver Nachforschungen über Informationslecks gibt es in Washington nach wie vor Regierungsvertreter, die Journalisten „top-secret“-Informationen liefern, ohne negative Folgen zu fürchten. So wurde etwa im Januar 2012 die geheimdienstliche Lageeinschätzung für Afghanistan der Presse zugespielt. Dasselbe geschieht immer wieder mit Informationen über vermeintlich geheime Drohnenangriffe in Pakistan. Offenbar lassen sich manche Regierungsvertreter von den neuen und strengeren Geheimhaltungs- und Sicherheitsgesetzen nicht sonderlich einschüchtern.
In den acht Jahren der Bush-Regierung waren viele liberale Kommentatoren der Ansicht, die ständige Ausweitung des Sicherheitsapparats stelle eine ernsthafte Bedrohung für die Grundfreiheiten der US-Bürger dar. Heute hört man von dieser Seite nichts. Damit zeigt sich erneut ein Muster, das sich seit 1945 beobachten lässt: Die Bedrohung der Bürgerrechte wird immer nur dann zum Thema, wenn die Demokratische Partei in der Opposition ist, wie etwa zu Beginn der 1970er Jahre. Sobald sie an die Regierung kommt, verschwindet das Thema von der Tagesordnung.
Heute reden sich viele den Demokraten nahestehende Intellektuelle damit heraus, dass sie gar nicht prinzipiell gegen die staatlichen Beschränkungen der Grundfreiheiten seien. Vielmehr kämpften sie dagegen an, dass die falsche politische Partei diese Instrumente in die Hand bekomme. Es ist die „übliche Reaktion von Liberalen, die sich nicht dazu durchringen können, Obama genauso zu verurteilen, wie sie es früher bei Bush getan haben“, meint dazu der prominente Jurist Jonathan Turley in einem Text über „zehn Gründe, warum die USA nicht mehr das Land der Freien ist“.(5) Umgekehrt begrüßen ehemalige Vertreter der Bush-Regierung, dass Obama den seit den Terroranschlägen von 2001 errichteten Sicherheitsstaat zur rechtlichen Normalität gemacht hat.
Guantánamo als Symbol des Scheiterns
In den ersten Wochen seiner Amtszeit schien Präsident Obama noch entschlossen, seine Wahlversprechen einzuhalten. Dann aber wurde sein misslungener Versuch, Guantánamo zu schließen, zum Symbol des Scheiterns. Im November 2009 hatte Justizminister Eric Holder überraschend verkündet, man werde fünf der Guantánamo-Gefangenen vor ein ziviles Bundesgericht in New York bringen.
Doch die Regierung hatte es versäumt, die Politiker in New York rechtzeitig zu informieren, die sich angesichts der öffentlichen Reaktion querstellten. Die Regierung, die ohnehin gerade mit anderen Krisen beschäftigt war, gab schnell nach. Seitdem hat die Idee, das ganze Guantánamo-System aufrechtzuerhalten – also auch Militärtribunale und unbegrenzte Inhaftierung selbst ohne Prozess –, im Kongress immer mehr Unterstützung gefunden. Vor allem bei demokratischen Senatoren und Abgeordneten.
In all diesen Debatten haben sich die Bundesgerichte, die immer sehr auf ihre Autorität und ihr Prestige bedacht sind, enorm zurückgehalten. Deshalb wäre es falsch, die Zementierung dieser Notstandssicherheitsmaßnahmen durch Obama als Beleg für eine „imperiale Präsidentschaft“ zu sehen, die legislative und judikative Barrieren einfach beiseiteräumt. In der Geschichte der USA ist die rapide Entwicklung hin zu einem Sicherheitsstaat ohnehin keine singuläre Erscheinung.
Der Sicherheitsstaat erlebte seine größte Expansion im Kalten Krieg, als unter dem demokratischen Präsidenten Harry Truman die US-Militärpräsenz im Ausland – zur „Eindämmung“ des Kommunismus – ausgebaut und im Inland gegen die vermeintlich „rote Gefahr“ aufgerüstet wurde. Weitere Schübe erfolgten unter dem Demokraten Kennedy und dem Republikaner Reagan. Insgesamt bekam der Sicherheitsapparat in der gesamten Nachkriegsära stets die Finanzmittel und die autonomen Befugnisse bewilligt, die er verlangt hat. Nach Dwight D. Eisenhower gab es keinen Präsidenten mehr, der diesen Sicherheitsapparat jemals voll unter Kontrolle gehabt hätte.
Die Vereinigten Staaten sind dafür bekannt, dass ihre Bürger jede staatliche Einmischung in das Privatleben strikt ablehnen. Der Einsatz für die bürgerlichen Freiheitsrechte war zwar immer stark, er galt aber auch nur der privilegierten Schicht mit den demografischen Kernmerkmalen weiß, männlich und christlich. Wer diesem Stamm nicht angehörte, besaß weniger Freiheiten oder überhaupt keine.
Wenn eine Regierung gegen eine unpopuläre Minderheit vorging, hat die Mehrheit solche Sicherheitsmaßnahmen stets problemlos geschluckt. Ein spezieller Fall ist die Islamophobie, die seit den Terroranschlägen von 2001 zugenommen hat. Man denke nur an die Proteste gegen den Bau von Moscheen, an die vielen freischaffenden fanatischen „Islam-Experten“ oder an die höchst bedenklichen Ausbildungsmethoden der Polizei. Den Behörden erscheint es immer häufiger dringend geboten, Vorschriften zu erlassen, die eine zivilrechtliche Anwendung der Scharia verhindern.(6 )
Wie jüngste Umfragen zeigen, hat auch die öffentliche Zustimmung für gezielte Schikanen gegen Araber zugenommen, wie das Abhören von Telefonen ohne gerichtlichen Beschluss oder das Profiling, die meist schlichten Stereotypen folgende Erstellung von Täterprofilen, bei Flughafenkontrollen.(7) Schließlich haben nur Terroristen etwas zu verbergen, heißt es dann. 2009 erklärte Google-Chef Eric Schmidt in einem Interview: „Wenn es etwas gibt, von dem man nicht will, dass es alle wissen, dann sollte man es vielleicht gar nicht erst tun.“(8) Diese Äußerung vom Chef eines Unternehmens, das über eine beispiellose Macht zur Verletzung des Postgeheimnisses verfügt, haben die Verteidiger der bürgerlichen Freiheitsrechte zutiefst erschreckt.
Libertäre Konservative hatten zwischenzeitlich gehofft, die rechtspopulistische „Tea Party“-Bewegung könnte fordern, den Sicherheitsstaat zurückzustutzen. Doch wenn bei der Tea Party von Freiheit die Rede ist, ist immer nur die Freiheit des Eigentums gemeint. Die republikanischen Mitglieder im Kongress, die sich der Bewegung verbunden fühlen, haben 2011 jedenfalls mit überwältigender Mehrheit für die Verlängerung des Patriot Act gestimmt.
Der nationale Sicherheitsapparat wird vermutlich noch mehr ausgebaut – parallel zu den Auslandseinsätzen des US-Militärs. Angesichts der Tatsache, dass nur wenige Politiker bereit sind, die Lehren aus dem „Krieg gegen den Terror“ zu ziehen, ist mit einer Beendigung der Interventionen in Ländern wie Afghanistan, Jemen, Pakistan und Somalia nicht zu rechnen. Die neue amerikanische Normalität ist ein Dauerzustand von halb Krieg, halb Frieden – im Ausland wie an der Heimatfront.
Fußnoten:
(1) David Kravets, „Homeland Security Concedes Airport Body Scanner ’Vulnerabilities‘ “, "Wired, 7. Mai 2012.
(2) James Bamford, „The NSA is Building the Country’s Biggest Spy Center“, "Wired, 15. März 2012.
(3) Dana Priest und William M. Arkin, „Top Secret America: The Rise of the New American Security State“, New York (Little, Brown & Company) 2011, S. 234.
(4) Matthew M. Aid, „Intel Wars“, New York (Bloomsbury) 2012, S. 77.
(5) "Washington Post, 4. Januar 2012.
(6) Solche Gesetze gibt es etwa in Tennessee, Louisiana und Oklahoma. Die muslimischen Gemeinden in den USA greifen auf gewisse Scharia-Vorschriften bei der Regelung zivilrechtlicher Konflikte zurück, verlangen aber keinesfalls die Übernahme von radikalen Scharia-Regeln in das Strafrecht. Zu diesem Kulturkampf in den USA siehe Jaweed Kaleem, „Sharia Law Campaign Begins As Muslim Group Fights Bans“, "Huffington Post, 2. März 2012.
(7) Ed Kilgore, „Disclosure: How Americans Really Feel About Body Scanners and WikiLeaks“, "The New Republic, 10. Dezember 2010.
(8) Ryan Tate, „Google CEO: Secrets are for Filthy People“, "Gawker, 4. Dezember 2009.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Le Monde diplomatique vom 12.10.2012
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