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Aus Erfahrung klug?

 ■ Überlegungen aus der Sicht eines Abgeordneten

Von P. Tiefenbach

In der Regel wird die Diskussion um die Rotation als Konflikt zwischen basisdemokratisch-alternativem Anspruch einerseits und Notwendigkeit der Professionalität andererseits dargestellt. Welche Art von Professionalität erlernt aber der Abgeordnete im Parlament? Verlernt er möglicherweise auch so einiges? Vielleicht lernt er sogar Dinge, die eigentlich eher negativ sind? Für letzteres ein paar Beispiele.

Negativqualifikation Nr. 1: der Redestil des Parlamentariers

Üblicherweise spricht der Abgeordnete im Parlament vor einem gänzlich desinteressierten Auditorium.

Dies liegt in der Natur des Parlaments: auch der Wohlmeinendste kann nicht länger als zwei Stunden parlamentarischen Reden lauschen - zumal das meiste ja schon mehrfach gesagt wurde. Der gelegentliche Blick des Parlamentariers zum Publikum fällt immer auf eine Zeitung lesende, tuschelnde oder gähnende Menge. In einer solchen Situation sucht man auf jeder normalen Versammlung zu einem guten und vor allem schnellen Abschluß zu kommen - nicht so im Parlament. Die fünfzehn Minuten, die der Fraktion zustehen, müssen gefüllt werden. So redet man eben weiter und versucht trotz alledem, den Medien zuliebe, möglichst dramatisch zu wirken. Inzwischen habe ich gelernt, Verunsicherung dadurch zu entgehen, daß ich das Publikum vom Rednerpult aus überhaupt nicht mehr wahrnehme. Eine im Parlament unverzichtbare Qualifikation, die aber zur Folge hat, daß auch in richtigen Versammlungen Abgeordnete routiniert völlig am Publikum vorbeireden - jeder kennt das.

Der normale Zuhörer wendet sich aber auch deshalb oft nach kurzer Zeit mit Gähnen ab, weil Abgeordnete gleich welcher Partei tranig und lang reden. Auch dies ist mir inzwischen sehr verständlich. Ob im Ausschuß oder im Parlament - der Abgeordnete redet stets nur fürs Protokoll. Alle Entscheidungen sind immer schon auf Vorbesprechungen der Mehrheitsfraktion vor Beginn der Sitzung gefallen. Eine zielgerichtete, auf Entscheidung orientierte Diskussion findet nicht statt. Wozu auch, wo das Ergebnis der Diskussion doch schon feststeht? Zumindest im Ausschuß, wo die Redezeit nicht begrenzt ist, folgt ein sinnloser, besserwisserischer Redebeitrag dem nächsten. Fatalerweise übertragen die meisten Abgeordneten dies Verhalten auch auf Sitzungen, wo durchaus nicht alles vorbestimmt ist, zum Beispiel Fraktionssitzungen. Ergebnisorientiertes, knappes Argumentieren verlernt man im Parlament restlos.

Natürlich läßt die Neigung des Jungparlamentariers, ausgefeilte und hochqualifizierte Vorträge zu erarbeiten, früher oder später nach, wenn er merkt, daß er damit nichts bewirkt, nicht mal Leute zum Zuhören motiviert. Er erwirbt die Qualifikation, ohne große Vorbereitung lange über Themen zu sprechen, von denen er keine Ahnung hat und die ihn nicht interessieren. Wer sich auf Mitgliederversammlungen ärgert über nicht enden wollende, wenig ergiebige Beiträge von Abgeordneten, sollte nachsichtig sein: es ist genau das, was der Abgeordnete mit Mühe im Parlament erlernt hat!

Negativqualifikation Nr. 2: Kernige Platitüden, der Presse zuliebe

Zur Senkung des Niveaus trägt bei, daß der ganze Stolz des Abgeordneten ist, in den Medien zu erscheinen. Da Parlamentsdebatten in der Regel ohne größere Zuhörerzahl ablaufen, bekommt die Presse überragende Bedeutung. Presseberichte sind kurz, und alle Parteien sowie die Regierung sollten mit einem Satz erwähnt werden. Mit dem Blick auf die Presse kommt es darauf an, einige besonders „starke Worte“ (sehr beliebt bei Grünen: „Es ist ein Skandal...“) einzuflechten, vielleicht einen Minister persönlich zu beschimpfen, am besten wenn einem etwas Witzig -Beleidigendes einfällt. Differenzierte Argumentation dagegen ist der Presse völlig gleichgültig. Da in der Regel derjenige als guter Abgeordneter angesehen wird, der oft in der Presse erscheint, lenkt dies sehr den Redestil und sogar den Denkstil.

Negativqualifikation Nr. 3: Der Abgeordnete sieht Bäume, aber nicht mehr den Wald

Im übrigen täuscht sich der Bürger, wenn er denkt, das Niveau einer parlamentarischen Debatte sei sehr anspruchsvoll. Dieser Eindruck entsteht, weil die Abgeordneten enorm viele Details kennen. Sie kennen zum Beispiel die verschiedenen Novellen des AFG (Arbeitsförderungsgesetzes) recht genau, wissen, was die Bundesregierung mit dieser oder jener Novelle bezweckte oder wieviel Komplementärmittel das Land zur Verfügung stellt usw. Der beeindruckte Bürger vermutet nun, daß jemand, der sich so genau auskennt, auch eine viel bessere Einschätzung der Gesamtproblematik haben muß. Und genau hierin irrt er. Hinter dem Detailwissen verstecken sich in der Regel ganz schlichte Argumentationsschemata.

Schlimmer noch: das Detailwissen, das jeder Abgeordnete erwirbt, verdeckt mitunter den Blick auf die wahren Zusammenhänge, die der von solchem Wissen weitgehend unberührte „Mann/Frau auf der Straße“ klarer erkennt. Während der Bürger schlicht zum Beispiel fordert, ein historisches Gebäude nicht abzureißen, sondern Asylbewerbern zu überlassen, weiß der Abgeordnete um Planungskonzepte, Zuständigkeitsprobleme, Haushaltsdefizit - lauter Dinge, die er nicht recht durchschaut, die bei ihm aber den diffusen Eindruck hinterlassen, die schlichte Bürgerforderung sei etwas naiv, so einfach könne man es sich nicht machen.

Der Soziologe Robert Michels hat 1925 über seine Beobachtungen der damals noch jungen SPD ein interessantes Buch geschrieben. Er beschreibt die psychologischen Veränderungen eines sozialdemokratischen Berufsrevolutionärs folgendermaßen - die Beobachtungen treffen im Kern auch auf den grünen Parlamentarier zu: „Ihr Gesichtskreis gewann an Präzision, aber er verlor an Weite und Größe. (...) mit je mehr Bienenfleiß er sich in die Spezialfragen der Fabrikinspektion und des Gewerbegerichts, des Rollmarkensystems in den Konsumvereinsläden und der Gasverbrauchskontrolle bei der kommunalen Gasbeleuchtung einarbeitete, (...) desto weniger Zeit, Lust und Sinn blieben ihm - nach physiologisch-psychischen Gesetzen für die großen geschichtsphilosophischen Zusammenhänge, desto falscher wurde sein Urteil über internationale Fragen und desto mehr wurde er geneigt, jeden für einen 'Unberufenen‘ zu erklären, der nicht von technischen, sondern von höheren Gesichtspunkten ausgeht.“

Negativqualifikation Nr. 4: der feindliche Staat besteht aus Menschen

Ganz schwierig wird es, wenn der Abgeordnete auch noch den zuständigen Minister persönlich kennt und ihn als ziemlich rechtschaffenen Mann einschätzt. Wie überhaupt der direkte Verkehr Verständnis schafft. Es fällt schwer, eine bekannte Persönlichkeit als ausländerfeindlichen Stadtzerstörer anzugreifen, wenn sie einen nach der Ausschußsitzung regelmäßig zum Cognac einlädt - selbst dann, wenn diese Bezeichnung angemessen wäre.

Sollte der Abgeordnete die Hoffnung haben, selbst einmal Minister zu werden, wird er sich natürlich die Frage stellen, ob er dies Problem tatsächlich besser gelöst hätte. Wer die Erfahrung gemacht hat, wie schwierig es zum Beispiel sein kann, eine neue Raumaufteilung im grünen Fraktionsbüro durchzusetzen, neigt zur Nachsicht gegenüber einem Verantwortlichen, der es nicht schaffte, gegen die Bürokratie einen Abriß zu verhindern. All dies ist dem Mann/Frau auf der Straße unverständlich. In schlichter Selbstverständlichkeit sagt er, insbesondere in Zeiten der Wohnungsnot dürfe ein erhaltenswertes Gebäude nicht abgerissen werden - und hat völlig recht damit.

Im persönlichen Gespräch stellt der grüne Neuling fest, daß die politischen Gegner nicht bösartig oder korrupt sind, sondern „von ihrem Standpunkt“ durchaus folgerichtig argumentieren. Sieht er anfangs noch alles aus der Sicht des von den Auswirkungen Betroffenen, so tritt später die Logik des Regierungshandelns als zweite Perspektive in sein Bewußtsein. Diese Zwischenphase ist ziemlich schwierig, aber kreativ. Nach und nach aber sieht der Abgeordnete die Betroffenenforderungen durch die Verwaltungsbrille. Er findet sie vielleicht noch richtig, stuft sie aber im eigenen Denken dann als abwegig oder nicht realisierbar ein. Während der Kulturrevolution regte Mao an, daß alle Verwaltungs- und Politikkader einen Monat im Jahr in der Produktion arbeiten sollten. Es ließ sich aber schon damals nicht durchsetzen, sondern wurde, wie die Rotation, als chaoserzeugende Schikane aufgefaßt.

Die Rotation, eine Chance für den Abgeordneten

Beginnt der Abgeordnete sein schweres Amt, steckt er nicht nur voll guter Vorsätze, sondern hat auch möglicherweise einige Ideen. Unter Umständen hat er Kontakt zu Privatpersonen oder Initiativen, die ihm bestimmte Sachen zustecken oder ihn drängen, sich einer Sache anzunehmen. Nach und nach jedoch verliert er die Lust an stundenlangen Sitzungen. Die tägliche Papierstapel, anfangs voller Interesse auf der Suche nach Information durchgesehen, werden zur Belastung. Phantasie und Kreativität, sofern überhaupt je vorhanden, verdorren in dieser Atmosphäre. Wer's nicht glaubt, möge überlegen, ob er einen einzigen phantasievollen Abgeordneten kennt. Der Bürger, der auf einen Mißstand aufmerksam macht, wird dann wahrgenommen als jemand, der zusätzliche Arbeit verursacht, die vielleicht das Wochenende kostet. Politik wird zur Pflicht. Eine Pause zur Rekreation (beziehungsweise Reanimation) wäre jetzt geboten. Doch wer gibt gerne eine Tätigkeit auf, die Einkommen und Prestige mit persönlichen Freiräumen und einem gewissen Maß an Selbstverwirklichung verbindet? Eine klare Rotationsregelung ohne Ausnahmehoffnung ist Hilfe wider Willen.

Die Rotation, eine Notwendigkeit für die Partei

Rotationsgegner gehen unausgesprochen davon aus, je länger der Abgeordnete im Dienst sei, desto besser würde er. Daß das so nicht stimmen kann, beweist ein kurzer Blick auf die bewährten Abgeordneten der anderen Parteien. Der neue Abgeordnete lernt anfangs eine Menge Details und das parlamentarische Know-how. Nach ein bis zwei Jahren hat er in der Regel den Vorsprung der altgedienten Kollegen aufgeholt, zumindest was die wichtigen Dinge anbelangt. Um diese Zeit etwa ist er meines Erachtens am besten, danach überwiegen die oben dargestellten „Verschleißerscheinungen“ und der Verlust an Phantasie. Das Dauerabgeordnetentum führt zu ähnlichen bürokratischen Verkrustungen wie das Berufsbeamtentum. Das erkennen inzwischen auch die anderen Parteien, aber sie kommen aus ihrer Struktur nicht mehr heraus. Die Grünen haben noch die Chance, eine moderne, bewegliche Organisationsform zu schaffen, die regelmäßige Wechsel der Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte beinhaltet. Während die kapitalistische Industrie anfängt, innovations- und motivationsfördernde Strukturideen aus der Alternativökonomie zu klauen, sollten die Grünen nicht zu Opas Organisationsmodell zurückkehren.

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