Augenzeugenbericht aus Tripolis: „Gaddafi, hau ab!“
Brutal lässt Libyens Regimechef Gaddafi Soldaten gegen Aufständische vorgehen. Aziz al-Baar wurde in der Hauptstadt Tripolis zum Augenzeugen der Massaker.
taz: Herr al-Baar, wie ist die Lage in Tripolis?
Aziz al-Baar*: Die Regierung hat die Kontrolle über die Lage in ganz Tripolis. Es ist nicht so wie im Osten, wo Regimegegner Teile des Landes kontrollieren.
Was wissen Sie über die Niederschlagung der Aufstände?
Es kam in der Nacht zu Massakern an friedlichen Demonstranten im Stadtzentrum. Daraufhin zogen sich die Demonstranten am frühen Morgen aus dem Zentrum zurück, wurden aber von den Sicherheitskräften weiterhin verfolgt und ermordet. Meine Freundin befindet sich seit Samstag bei ihrer Großmutter im Stadtteil Souk Ajouma im Zentrum von Tripolis, wo der Freitagsmarkt liegt, auf dem normalerweise Zehntausende einkaufen gehen. Sie hat Dienstag früh dort Leichen in den Gassen gesehen, das hat sie mir an dem Morgen am Telefon gesagt.
Ehemaliger freier Mitarbeiter, die taz hat 2014 die Zusammenarbeit beendet.
Von einem anderen Freund aus dem Viertel Tajoura weiß ich, dass auch dort am Morgen noch Leichen lagen. Ebenso in den Vierteln Fashlom, Gergaresh und Hay al-Andalous. Insgesamt gab es so viele Opfer in einer Nacht, wie noch nie in der 41-jährigen Regierungszeit von Muammar al-Gaddafi. Eine befreundete Familie hatte allein letzte Nacht fünf Todesfälle zu beklagen.
Können Sie mir genau den Verlauf dieser Nacht beschreiben, wie Sie es von Freunden erzählt bekommen haben?
(*Name geändert) ist 24 Jahre alt und arbeitet in Tripolis für eine internationale Firma.
Nach der unsäglichen Rede von Saif al-Islam al-Gaddafi gingen Hunderttausende ins Zentrum und zeigten ihre Schuhe – als Zeichen des Protests gegen das Regime. Diese Demonstranten hörten dann Gerüchte, Muammar al-Gaddafi habe Libyen verlassen und es gab spontane Freudenfeste bis 3.40 Uhr Dienstag früh. Dann wurde plötzlich ziellos auf die Demonstranten geschossen, sogar mit automatischen Feuerwaffen. Die Sicherheitsbehörden wollten verhindern, dass die Demonstranten die Kontrolle über das Stadtzentrum erlangen.
Was passiert an Ihrem Wohnort?
Ich lebe im Viertel al-Hadba al-Kadra, dem grünen Hügel. Wenige Meter gegenüber von meinem Haus steht ein Polizeiauto mit einem Maschinengewehr auf der Ladefläche des Pick-ups und daneben ein Bus mit Gittern, in dem bei Bedarf gefangengenommene Demonstranten abgeführt werden können. Das Grüne Krankenhaus liegt ganz in meiner Nähe. Nach den Massakern am Dienstagmorgen hat das Regime angefangen, mit großen Wagen die Leichen in der Stadt einzusammeln und in die Krankenhäuser in Tripolis zu bringen. Die Krankenhäuser sind zudem überlastet mit der Behandlung von zahlreichen Verletzten.
Wer hat die Massaker, wie Sie sie nennen, verübt?
Teile der Armee und Polizei, aber auch Leute ohne Uniform, die das Regime von Gaddafi unterstützen. Auch Mitglieder der einzigen politischen Partei Lijan Thawriya (Revolutionskomitees, d. Red.) gingen bewaffnet gegen die Demonstranten vor.
Was fordern die Demonstranten? Welche Parolen werden auf der Straße gerufen?
„Gaddafi, hau ab – verschwinde aus Libyen!“, „Das Volk will das Geld aus dem Öl“, „Stoppt die Korruption“, „Wir wollen Wahlen“, „Wir wollen eine Verfassung“. Und zu den auf die Menge schießenden und prügelnden Polizisten: „Schande über euch“!
Wie funktionieren die Kommunikationswege?
Gaddafis Sohn habe ich auf al-Dschasira über Satellit noch gesehen, aber mittendrin wurde es abgeschaltet. Der Sender ist seit Montagmorgen nicht mehr zu empfangen. Das finde ich schade, weil al-Dschasira in Libyen Glaubwürdigkeit genießt. Festnetztelefone und Mobiltelefone sind immer wieder abgeschaltet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe