Aufstand in Libyen: Kampf um Tripolis
In der libyschen Hauptstadt liefern sich Gegner und Anhänger Gaddafis Feuergefechte. Die Ehefrau einer der Söhne von Libyens Staatschef Gaddafi wollte offenbar nach Beirut fliehen.
TRIPOLIS/BEIRUT/NEW YORK dapd/dpa/afp | Anhänger und Gegner des libyschen Staatschefs Muammar al Gaddafi haben am Mittwoch um die Kontrolle der Hauptstadt Tripolis gekämpft. Immer wieder waren Schüsse in den Straßen zu hören, während die Opposition in anderen Städten bereits den Sieg über das Regime feierte. Unterdessen wuchs der internationale Druck auf Gaddafi, das brutale Vorgehen gegen die Demonstranten zu beenden.
Bewohner von Tripolis hatten Angst ihre Häuser zu verlassen. Sie sagten, Milizen Gaddafis feuerten willkürlich in den Straßen. Eine Augenzeugin sagte, die Straßen seien menschenleer. Sogar die Verletzten könnten die Krankenhäuser nicht aufsuchen aus Angst, erschossen zu werden.
Gaddafi hatte in einer kurzen Rede am Dienstag seine Anhänger aufgefordert, gegen die Opposition vorzugehen. Der italienische Außenminister Franco Frattini erklärte, Schätzungen über 1.000 Tote in Libyen seien glaubwürdig. Er betonte jedoch, dass diese Informationen nicht vollständig seien. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ging von fast 300 Todesopfern aus.
Fahnen der Monarchie gehisst
Die Opposition soll die Städte Misrata und Tobruk unter ihre Kontrolle gebracht haben. Augenzeugen berichteten, die Menschen dort seien hupend durch die Straßen gefahren und hätten Fahnen aus der Zeit der 1969 gestürzten Monarchie gehisst. Misrata wäre die erste größere Stadt im Westen von Libyen, die von den Regierungsgegnern erobert wurde. Ein Arzt dort, Faradsch al Misrati, erklärte, Einwohner hätten Komitees gegründet, um die Stadt zu schützen, die Straßen zu säubern und die Verletzten zu behandeln. "Die Solidarität der Menschen ist erstaunlich, sogar die Behinderten helfen mit", erklärte der Arzt telefonisch.
Im Online-Netzwerk Facebook tauchten neue Videos auf, die Regierungsgegner in Sawija, außerhalb von Tripolis, beim Hissen der Flagge der Monarchie zeigten. In anderen Videos waren Aktivisten zu sehen, die Zementblöcke errichteten und Reifen anzündeten, um ihre Position auf einem Platz der Hauptstadt zu verteidigen. Eine Bestätigung der Bilder von unabhängiger Seite gab es nicht.
Ein Privatjet mit der libanesischen Ehefrau einer der Söhne von Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi an Bord durfte nicht auf dem Flughafen Beirut landen. Das berichtete ein libanesisches Radio am Mittwoch. Im Flugzeug der Frau von Hannibal Gaddafi waren auch andere Familienmitglieder.
Die libanesischen Flugbehörden weigerten sich am Dienstag eine Landegenehmigung für den internationalen Flughafen in Beirut zu erteilen, nachdem Libyen die Identität der Insassen nicht preisgeben wollte. Die Behörden in Beirut sollen daraufhin den Piloten aufgefordert haben, seine Maschine in ein angrenzendes Land zu fliegen, entweder Syrien oder Zypern.
Unterdessen hat sich der von Gaddafi für tot erklärte Innenminister den Aufständischen angeschlossen. Abdulfattah Junis sagte am Mittwoch in einem Telefoninterview des Nachrichtensenders Al-Arabija, ein Anhänger von Gaddafi habe versucht, ihn zu erschießen. Der Schütze habe ihn jedoch verfehlt und stattdessen einen Verwandten des Ministers verletzt.
Er sei nun kein Minister mehr, sondern ein Soldat im Dienste des Volkes, fügte Junis hinzu. Und dem Nachrichtensender al-Dschasira sagte er: "Ich rufe die bewaffneten Sicherheitskräfte auf, auf die Forderungen des Volkes zu hören." Er sei von der Ernsthaftigkeit dieser Forderungen überzeugt. Auch Justizminister Mustafa Abdel Dschalil legte bereits sein Amt nieder.
UN fordert Ende der Gewalt gegen Demonstranten
Angesichts der blutigen Unruhen in Libyen mit hunderten Toten und noch mehr Verletzten haben die Vereinten Nationen (UN) Gaddafi unterdessen aufgefordert, die Gewalt sofort zu stoppen. Gegen Menschen, die berechtigte Forderungen vorbrächten, dürfe nicht mit Waffen vorgegangen werden, heißt es in einer Erklärung, die nach einer Sondersitzung des höchsten UN-Gremiums am Dienstagabend in New York veröffentlicht wurde.
Bei den seit einer Woche andauernden Protesten in Libyen sind offiziellen Angaben zufolge mindestens 300 Menschen getötet worden. Bei den Toten handele es sich um 189 Zivilisten und 111 Militärangehörige, teilte ein Sprecher des Innenministeriums mit. Die meisten Opfer habe es mit 104 Zivilisten und zehn Militärs in der zweitgrößten Stadt Bengasi gegeben, wo die Unruhen begonnen hatten. Es handelt sich um die ersten offiziellen Zahlen seit Beginn des Volksaufstands am 15. Februar. Menschenrechtler beziffern die Zahl der Toten auf bis zu 400.
"Wir sind sehr besorgt, verurteilen die Gewalt und bedauern den Tod hunderter Menschen", heißt es in der Erklärung des Weltsicherheitsrats, auf den sich alle 15 Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, am Dienstagabend in New York verständigten. Gaddafi solle das Papier als "deutliches Signal" verstehen, dass er für den Schutz seines Volkes verantwortlich sei. Libyens Vizebotschafter Ibrahim Dabbashi, der sich am Tag zuvor von Gaddafi losgesagt hatte, sprach im Sicherheitsrat von einem "beginnenden Völkermord".
Der Machthaber setze auch Söldner "aus vielen afrikanischen Ländern" ein. UN-Untergeneralsekretär Lynn Pascoe bestätigte, dass es in Libyen Gerüchte über den Einsatz ausländischer Soldaten gegen Demonstranten gebe. "Die Menschen auf der Straße glauben, dass solche Söldner eingesetzt werden. Unsere Mitarbeiter sind sehr besorgt." Die UN seien aber nicht in der Lage, diese Berichte zu bestätigen.
Gaddafi will als "Märtyrer" sterben
Wenige Stunden zuvor hatte Gaddafi in einer Fernsehansprache jedes Einlenken gegenüber seinen Gegnern abgelehnt und angekündigt, kämpfen und als "Märtyrer" sterben zu wollen. Für die seit einer Woche anhaltenden Proteste gegen sein Regime machte er drogenkranke Jugendliche und ausländische Medien verantwortlich.
Gaddafi forderte seine Anhänger auf, die Straßen zurückzuerobern. Landesweit sollten sie am Mittwoch für ihn demonstrieren. "Geht alle auf die Straße", rief er. Das libysche Staatsfernsehen zeigte bereits in der Nacht zum Mittwoch Bilder von demonstrierenden Gaddafi-Anhängern in Tripolis.
"Ich bin kein Präsident, der zurücktreten kann", sagte der vor Wut schäumende Gaddafi in der Fernsehansprache. Er beschimpfte seine Gegner als "Verräter" und versuchte, die Bürger seines Landes doch noch auf seine Seite zu ziehen. "Dies ist mein Land, das Land meiner Großväter und eurer Großväter. (...) Verräter beschmutzen das Image Eures Landes vor der ganzen Welt." Die Bürger Libyens forderte er auf, an diesem Mittwoch für ihn zu demonstrieren. "Geht alle auf die Straße", forderte Gaddafi.
Ausländer verlassen das Land
Aus Angst vor einer weiteren Eskalation der Gewalt versuchen viele Staaten, ihre Bürger aus Libyen herauszuholen und in Sicherheit zu bringen. Am späten Dienstagabend landete in Frankfurt eine Lufthansa-Maschine mit Deutschen aus Tripolis. Zahlreiche Urlauber und Geschäftsleute wurden von ihren Angehörigen begrüßt und berichteten von den blutigen Protesten und dem politischen Chaos im nordafrikanischen Land.
Zwei Transall-Maschinen der Bundeswehr, die die libysche Hauptstadt am späten Dienstagabend ebenfalls mit Bundesbürgern an Bord verlassen hatten, machten über Nacht Zwischenstation in Malta. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sollen sie im Laufe des Tages nach Deutschland fliegen. Am Mittwoch werde zudem eine weitere Sondermaschine der Lufthansa Ausreisewillige aus Libyen abholen. Auch weitere Transall-Flüge seien geplant, hieß es in Berlin.
Tausende ägyptische Gastarbeiter verlassen Libyen unterdessen auf dem Landweg. An der ägyptischen Grenze angekommen, berichteten viele von Mord, Plünderungen und kompletter Anarchie im östlichen Teil des Landes, in dem Gaddafis Truppen kaum noch Präsenz zeigten. Die Gegner des Staatschefs kontrollieren nach eigenen Angaben mittlerweile 90 Prozent des Landes. Viele Armee-Einheiten und Sicherheitskräfte seien übergelaufen, sagten ranghohe libysche Funktionäre, die auf Distanz zu Gaddafi gegangen sind.
Internationale Verurteilung der Gewalt
Die Bundesregierung drohte der libyschen Staatsführung rasche Sanktionen an, sollte sie weiter brutal gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Die Rede Gaddafis sei "sehr, sehr erschreckend, insbesondere, weil er quasi seinem eigenen Volk den Krieg erklärt hat", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin.
Auch US-Außenministerin Hillary Clinton verurteilte das Blutvergießen in Libyen als "völlig inakzeptabel". Sie sprach sich für "angemessene Schritte" der Weltgemeinschaft aus, sagte aber nicht, ob dies auch Sanktionen gegen Tripolis beinhalte.
Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi - ein Freund Gaddafis - telefonierte am Dienstag mit dem libyschen Staatschef. Dabei habe Berlusconi die blutige Gewalt angesprochen und betont, wie wichtig eine friedliche Lösung und Mäßigung seien, um die Gefahr eines Bürgerkrieges in Libyen zu vermeiden, hieß es in Rom. Die Arabische Liga beschloss unterdessen, Libyen vorläufig von ihren Sitzungen auszuschließen. Das teilte die Organisation nach einer Dringlichkeitssitzung am Dienstag in Kairo mit.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte ein Verfahren gegen Gaddafi vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Der UN-Sicherheitsrat müsse unverzüglich den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einschalten.
Die 27 EU-Staaten haben den Export von Waffen nach Libyen gestoppt. "Wir haben erfahren, dass jeglicher Waffenhandel ausgesetzt ist", sagte die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Mittwoch in Brüssel. Nach jüngsten Zahlen hatte Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi zuletzt von der EU jedes Jahr Waffen im Wert von mehreren hundert Millionen Euro geliefert bekommen. Laut Jahresbericht über die Ausfuhr von Militärgütern erlaubten EU-Regierungen allein 2009 den Export von Waffen im Wert von 344 Millionen Euro.
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