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Auge ist Herz

■ »Fegefeuer« — die verfilmte Lebensgeschichte des Jack Unterweger kommt jetzt ins Kino

Morgen, gestern, vorgestern, heute — alles dasselbe. Nach mehr als fünf Jahren Zellendasein wird jede Schuld unwirklich. Der Grund für die Strafe wird unwirklich. Die Strafe bleibt. Alles wird zeitlos...« Ein junger Mann schreibt im Knast gegen das Vergessen an. Lebenslänglich. Alles sei vergänglich, auch lebenslänglich, blödeln zwei Knastwärter. Sie sollen, am Ende, recht behalten.

Das erste Mal saß er wegen Entführung einer Minderjährigen ein. Chris hatte versprochen, auf ihn zu warten. Forever. Als er dann rauskam, um mit ihr das neue Leben zu beginnen, hatte sie es doch keine Ewigkeit ausgehalten und sich was Besseres gesucht. Aus und vorbei. Mit Marion sollte es »was anderes« sein. Sie hatte er schon als Kind gekannt, von ihr konnte er alles haben. Einst hielten ihre erregenden Strumpfbänder seine langen, rutschenden Baumwollstrümpfe. Sie, die schließlich von seiner Mutter im Gewerbe angelernt wurde, war wie eine Mutter zu ihm. Und er, der kleine Jack, war eine haßerfüllte kleine Kreatur.

Dafür hatte schon sein Opa gesorgt. Der lehrte ihn frühzeitig was fürs Leben: Karo ist Nase, Auge ist Herz — Kunstgriffe, mit denen er andre beim Pokern reinlegte. Auf der Jagd nach Wein und Weibern führte er seinen Schützling in die verruchte »Baccara«-Bar.

Neugierig besteigt der Junge im Film eine Stiege und beobachtet, verborgen im Halbdunkel, eine Professionelle bei ihrem Geschäft. Zehn Jahre später wird er erneut in jenem zwielichtigen Etablissement aufkreuzen. Er wird ebenjenen schüchternen Kunden von damals den dunklen Aufgang hinaufschicken, um der dort wartenden Chris klarzumachen, daß sie von nun an zum »Geschäft« gehört. »Normal« kostet inzwischen das Doppelte. Kassiert wird, wie ehedem, im voraus. Jack schaut im Spiegel zu, wie früher. Der liebe Junge, der er nie war.

Eine Biographie im Rück-Blick. Gebrochen, sprunghaft. Irgend etwas stimmt nicht, läuft verkehrt herum ab, beginnt mit dem traurigen Ende. Der kleine Jack, Sohn eines amerikanischen GIs und einer Kärntner-Kellnerin, wächst beim Großvater auf. Hin- und hergeschoben zwischen dem trunksüchtigen Alten, desinteressierten Pflegeeltern und der Fürsorge, scheint sein Weg zum Outsider vorgezeichnet. Die Mutter sah er das erste Mal mit zehn; da ging er noch zur Schule. Als er ihr zehn Jahre später das zweite Mal begegnet, sitzt er bereits hinter Gittern.

Die Schule war sein erstes Gefängnis. Und das Gefängnis war die Schule, in der er das Schreiben lernte. Rein in den Knast, raus aus dem Knast, immer das alte Lied. Dazwischen Jobs als Aushilfskellner. Das Sündenregister: Einbruchsdiebstahl, unerlaubte Inbetriebnahme eines Autos, Unfall, Fahrerflucht. Entführung einer Minderjährigen. 1975, fünfundzwanzigjährig, wegen Mordes an einer Prostituierten zu lebenslanger Haft verurteilt, beginnt er, an einem autobiographischen Roman zu arbeiten.

Wilhelm Hengstler (Jahrgang 1944) erzählt in seinem Spielfilmdebüt die Lebensgeschichte seines österreichischen Landsmannes Jack Unterweger. Er erzählt sie im Stil des »film noir«. Distanziert und kühl wie der Jazz von Coltrane, en Schattenspiel aus Mythos und Realität wie bei Cocteau. Dreimal durchquert der Fahrer eines Milchwagens im Laufe des Films eine Felsschlucht, die zum entlegenen Hof des Großvaters führt. Beim ersten Mal verlangt die Fürsorgerin, dorthin gebracht zu werden. Da tut der kleine Jack gerade einige Holzscheite in den Herd. Bei der nächsten Anfahrt sitzt der Bub an der Seite seiner endlich aufgetauchten Mutter. Beim dritten und letzten Mal nimmt deren Stelle, neben dem nunmehr erwachsenen Jack, Chris ein.

Die Suche nach der Mutter in der Welt »da draußen« - allerorten auch ein Forschen nach der eigenen Sexualität - hat ihn zumindest eines gelehrt: die Liebe hat ihren Preis, und wer den zahlen will, hat seinen Geschäften nachzugehen. Das tat die Mutter, das tut Marion. Das wird auch Chris tun müssen. Am Ende bleibt nur die blind-kalte Wut, die sich nichts mehr vormachen läßt. Im Spiegelkabinett — das nicht von ungefähr an Cocteaus Orphee erinnert — will einer seinen Hund gegen das eigene Spiegelbild hetzen. Vergeblich; der Hund läßt sich nichts vormachen. Viel später, als der vermeintlich verlorene Sohn zum Großvater »heimkehrt«, spiegelt sich Chris in seinen Brillengläsern. Sie wechseln die Brille. Doch Jack sieht sich nicht. »Ich blieb stehen, schloß die Augen, riß sie wieder auf. Vor mir war kein Traum. Vor mir stand eine Sehnsucht: die Mutter... Es gab keine Vergangenheit mehr. Nur noch ein Jetzt.« Roland Rust

Fegefeuer von Wilhelm Hengstler. Nach dem autobiographischen Roman Fegefeuer oder Die Reise ins Zuchthaus — Report eines Schuldigen von Jack Unterweger. Kamera: Jiri Stibr. Musik: Karlheinz Miklin. Mit Bobby Prem, Romeo Sitar, Jürgen Goslar, Jeanette Mühlmann u.a. Österreich 1988, 35 mm, s/w, 90 Min. Ab Donnerstag täglich, 23 Uhr im Sputnik Südstern.

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