Aufstand in Syrien: Der Befehlsverweigerer
Vor ihm die Demonstranten, neben ihm die Soldaten. Dann der Schießbefehl. Der Colonel brüllt. Doch Abdallah schießt nicht, sondern flieht auf seinem Roller.
WADI KHALED taz | Der Mann, der mit gedämpfter, tiefer Stimme spricht, erinnert sich an diesen Nachmittag vor acht Monaten. Er sitzt in einem kargen Wohnzimmer und denkt an die Toten auf dem Uhrenplatz. Er sagt, dass er alles wieder genauso machen würde. "Ich hatte gar keine Wahl", murmelt er.
Der Mann, Ende 40, schwer, hockt barfuß auf einem flachen Sitzkissen. Der Apparatschik-Look des syrischen Geheimdienstes - olivgrüne Bundfaltenhose, helles Oberhemd, kurz gestutzter Bart - ist Überbleibsel seines alten Lebens. Nun ist er auf der Flucht vor dem Staat, dem er 25 Jahre lang gedient hat. "Ich bin doch auch ein Teil des syrischen Volkes", sagt der Mann leise.
Reglos sitzt er da, die Beine unter sich verschränkt, die Hände auf den Oberschenkeln. Wie die Ruhe selbst. Er ist mit seiner Frau und den sieben Kindern im Wadi Khaled untergetaucht, einer ärmlichen Region am nordöstlichen Rand Libanons.
Ziad Abdallah (Name geändert; d. Red.) versteckt sich praktisch direkt vor der Nase der syrischen Streitkräfte: Die Grenze liegt nur ein paar Kilometer entfernt. Fast jede Nacht sind im Wadi Khaled Schüsse zu hören; ab und an dringen die Soldaten in libanesisches Gebiet ein, um Flüchtlinge zu verfolgen.
Ein zusammengewürfelter Haufen
"Man muss Risiken eingehen", sagt er. "Wie sollen wir das Regime denn sonst besiegen?" Er klingt seltsam unbeteiligt, so als würde die Todesgefahr gar nicht zu ihm durchdringen. Rund 150 Kämpfer der Freien Armee Syriens stehen unter seinem Kommando, Soldaten, die davongelaufen sind und sich in den Dörfern an der Grenze verstecken.
Ein zusammengewürfelter Haufen, mit nichts als ein paar alten Kalaschnikows, Schrotflinten und Jagdgewehren. "Uns fehlen Waffen", sagt Ziad Abdallah. "Je mehr Waffen wir haben, desto schneller können wir das Regime stürzen."
Er zieht seinen Dienstausweis aus der Brusttasche. Erster Leutnant beim militärischen Geheimdienst der Arabischen Republik Syrien. Sein wirklicher Name, der auf dem Papier steht, muss verschwiegen werden. Der Mann auf dem Bild hat stets Dienst nach Vorschrift geleistet.
Nicht dass er je zu den Verehrern von Baschar al-Assad gezählt hätte. Doch er glaubte, dass der Präsident das Land zumindest schützen würde, dass eine gewisse Kontrolle nötig sei. Die Sicherheit des Vaterlands, der Kampf gegen Israel. Heute sagt er: "Nicht einmal Israel hat im Gazastreifen solche Verbrechen verübt wie Assad an seinem eigenen Volk."
Apathie nach 40 Jahren Diktatur
Seine Geschichte steht für das wohl unwahrscheinlichste Kapitel des Arabischen Frühlings, für den Aufstand von Leuten, denen niemand einen Aufstand zugetraut hätte, auch keiner von ihnen selbst. Die Entwicklung Syriens von einem Land, das nach vier Jahrzehnten Diktatur in bleischwere Apathie versunken war, zu einem Land in Aufruhr.
Die Proteste, die im März in dem südlichen Örtchen Daraa begannen, haben längst die gesamte Nation erfasst. Mit einem Mal sind die Menschen nicht mehr bereit, sich noch länger mit der Korruption und Willkür der Machthaber abzufinden.
"Ich weiß, dass ich jetzt auf der richtigen Seite stehe", sagt Ziad Abdallah. Er war eigentlich immer der Typ, der ganz gut zurechtkam in einer Diktatur, einer, der seine Arbeit machte und nicht allzu viele Frage stellte.
Er hatte einen Posten am Schreibtisch, in der Presseabteilung der Zentrale des Militärgeheimdienstes in Damaskus. "Es war ein Job", sagt er schulterzuckend. "Ich bin jeden Morgen hingegangen und habe die Tage bis zu meiner Pensionierung gezählt."
Balance des Schreckens
Ziad Abdallah war ein kleines Rädchen in einem gewaltigen Überwachungsapparat. 14 verschiedene Geheimdienste in Syrien halten sich gegenseitig in Schach. Eine Balance des Schreckens. Ein Jahr vor der Rente bat Abdallah darum, in seine Heimatstadt Homs zurückkehren zu dürfen. Die Versetzung wurde bewilligt. Das war im Februar.
Wenige Wochen später geriet die Ordnung des Landes aus den Fugen. Ziad Abdallah wurde zum Dienst am Checkpoint eingeteilt. Er musste durch die Siedlungen patrouillieren, die Passanten beobachten, Ausweise mit den Listen von gesuchten Aktivisten abgleichen.
Seine Vorgesetzten sagten, es gehe darum, kriminelle Banden und gefährliche Islamisten zu bekämpfen. Abdallah stand tagein, tagaus auf der Straße. Von bärtigen Attentätern oder bewaffneten Gangs sah er keine Spur. Da begann er, den Glauben an seinen Staat zu verlieren. "Ich wusste nicht, was ich tun sollte", sagt er. "Ich war machtlos in dieser Situation."
Dann kam der 18. April. 10.000 Demonstranten strömten auf den zentralen Uhrenplatz in Homs, so viele wie nie zuvor. Ringsum zogen sich Soldaten und Sicherheitskräfte zusammen. Abdallah erhielt den Schießbefehl.
Blut vom Asphalt gewaschen
Er stand da, das Gewehr in der Hand - und tat nichts. Seine Männer starrten ihn an, der Colonel brüllte. 50 Menschen starben an diesem Tag, sagt er: "Sie haben mit Feuerwehrschläuchen das Blut vom Asphalt gewaschen und die Leichen in Lastwagen abtransportiert."
Auch sein eigenes Leben war in Gefahr. Er hatte den Schießbefehl verweigert, dafür hätten sie ihn einsperren, foltern und töten können. In der Basis östlich der Stadt rief ihn sein Vorgesetzter zu sich. Der Hauptmann sagte kühl, dass er nach Daraa versetzt werde. Er müsse sofort los. Es sollte eine letzte Chance sein.
Auch Soldaten werden in Syrien in der Regel fern ihrer Heimatstädte eingesetzt: Es fällt leichter, auf Fremde zu schießen, als auf Nachbarn. Doch Abdallah wollte überhaupt keine Demonstranten erschießen, auch in Daraa nicht. Er antwortete, er müsse kurz zu seinem Checkpoint zurück, er habe sein Handy dort liegen lassen. "Sie haben fünf Minuten", sagte der Hauptmann.
Abdallah fuhr auf seinem Motorroller über die Hauptstraße, hinter sich zwei Wagen. Seine Kameraden trauten ihm nicht mehr. Panik stieg in im hoch, seine Gedanken rasten. Er musste entkommen, nur wie?
Flucht auf dem Roller
Dann sah er eine Lücke in der Leitplanke in der Mitte der Fahrbahn, breit genug für einen Roller, aber nicht für ein Auto. Er riss den Lenker herum. Ehe die Männer reagieren konnten, war er über die Gegenseite in eine Nebenstraße verschwunden.
Er atmet tief durch, reibt seine Stirn. Er musste einen hohen Preis für seine Entscheidung bezahlen. Nicht nur, dass alles, was er sich aufgebaut hat, verloren ist. Nun haben sie auch noch seinen Bruder verhaftet, um ihn aus seinem Versteck zu zwingen.
Doch Ziad Abdallahs Kampf geht weiter. "Ich fühle die Bedrohung", sagt er, "doch ich habe keine Angst vor dem Tod." Er ist auf die Nähe zur syrischen Grenze angewiesen, sonst könnte er nicht mehr in den Konflikt eingreifen. Doch das bedeutet auch, dass er mit seiner Familie im direkten Zugriffsbereich Syriens lebt.
Das Wadi Khaled ragt wie eine Halbinsel in das Nachbarland hinein. Das kleine Haus von Ziad Abdallahs Schwager liegt an einem Hang, vor dem eine Landstraße entlangführt. Etwa fünf Minuten entfernt fällt neben der Straße eine steile Böschung ab. Unten ist der Nahr al-Kabir zu sehen, der schmale Fluss, der Libanon von Syrien trennt.
Auf der anderen Seite parkt ein Laster der syrischen Armee. Es ist davon auszugehen, dass sich Scharfschützen im Dickicht am Ufer verbergen. Neulich hat das Militär angefangen, Landminen entlang der Grenze zu verlegen. Offenbar soll verhindert werden, dass die Protestbewegung den Libanon zu einem Rückzugsgebiet ausbaut.
Den Auständischen fehlen Waffen
Nachts schleichen sich Ziad Abdallah und seine Männer von der Freien Armee Syriens ins Grenzgebiet, buddeln Minen wieder aus oder beobachten die Truppen auf der anderen Seite. Seltener sind Überfälle auf Checkpoints, denn für ein richtiges Gefecht fehlen ihnen die Waffen. Häufiger dringen die Männer in Syrien ein, um Medikamente einzuschmuggeln, Verwundete zu bergen oder Demonstranten mit ihren halb schrottreifen Gewehren zu verteidigen.
Ziad Abdallah fährt einmal pro Woche zurück nach Homs; jeden Freitag bricht er auf, steuert er seinen Motorroller über die Schmugglerpfade durch das felsige Grenzland. 30 Kilometer liegen vor ihm. Nur eine einzige unerwartete Kontrolle, ein falsches Abbiegen, und er wäre verloren.
Dass diese Missionen überhaupt möglich sind, liegt an seinen früheren Kameraden in den Sicherheitsdiensten. Einige stehen auf der Seite der Opposition, desertieren aber nicht, aus Angst vor dem Tod. Sie lassen Informationen durchsickern, welche Einsätze geplant und wo Patrouillen zu erwarten sind.
In Homs hilft Abdallah den Demonstranten, die großen Freitagsproteste zu koordinieren. Er gibt ihnen Ratschläge, denn niemand kennt die Taktiken, Strategien und Schwachstellen der Geheimdienste so gut wie er.
Der 47-Jährige schweigt eine Weile, von draußen dringt das Lachen seiner Kinder herein. Ziad Abdallah wird in seiner Heimat als Landesverräter gesucht, er selbst würde sich nicht als Deserteur bezeichnen. Sein Beruf, das ist, die Sicherheit des Volkes zu verteidigen, sagt er.
Und so, wie er die Sache sieht, tut er das nun auch tatsächlich, zum ersten Mal in seinem Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt