Aufsichtsrat Hermann-Josef Tenhagen: Und dafür liebe ich die taz

Wenn das Nachwende-Europa in den Fugen ächzt, helfen manchmal die taz-typischen Innenansichten.

Aufsichtsrat Hermann-Josef Tenhagen Bild: Anja Weber

Liebe Genossinnen und Genossen,

in meiner Jugend habe ich zu viel vorm Fernseher gesessen. Einige der Werbeslogans der siebziger Jahre begleiten mich deshalb bis heute. Eine der Werbebotschaften für ältere Damen lautete damals: „Nie war er so wertvoll wie heute – Klosterfrau Melissengeist.“

Exakt das habe ich in den vergangenen Wochen über die taz gedacht – vor und nach dem Brexit. Nie war mir die taz so wertvoll wie heute. Wenn das Nachwende-Europa in den Fugen ächzt und seine friedliche Existenz in Frage stellt, brauche ich die taz-typischen Innenansichten aus unseren Nachbarländern. Binnensichten, das ist der taz-Zugang zum Leben anderer Gesellschaften, nicht der Blick des Voyeurs von draußen.

Eine Liaison mit der taz

Der Startpunkt für meine aktuelle Liebesaffäre mit der taz ist ein Aufsatz von Dominic Johnson in der Ausgabe vom 19. Juni. Zwischen Revolte und Revanchismus heißt der Text, in dem unser Auslandschef die Argumente des Brexit-Camps erklärt – als demokratisch ordentlich legitimiert und nicht durchgeknallt. Ohne sie zu teilen. Okay, Dominic ist nicht nur Mitgründer der Ost-taz, er ist auch Brite.

Bild: taz-Titelseite vom 01.07.2016

Der zweite Höhepunkt für mich war am 1. Juli die Titelseite mit den Trümmerfrauen, die die politischen Schäden wegräumen müssen, die der männliche Teil der britischen Eliten hinterlassen hatte. Es entbehrt ja nicht einer gewissen Ironie, dass eine Brexit-Gegnerin wie Theresa May jetzt den demokratischen Auftrag zum Austritt meistern muss.

Ein Lob auf die Chefin der taz-Meinungsseite

Andererseits ist May seit sechs Jahren Innenministerin und hätte genug Möglichkeiten gehabt, das Abstimmungsdesaster (und hier meine ich nicht das Ergebnis, sondern die Art der Kampagne) zu beeinflussen. Freudentränen kullerten über meine Backen als Genosse und Journalist, jedes Mal, wenn wenig später andere Medien Nina Apins Trümmerfrauenbild auch entdeckten. Ein Lob auf die Chefin der taz-Meinungsseite.

Und dann lässt die taz auch noch zwei junge SchriftstellerInnen auf die britische Jugend eindreschen. Nora Bossong und Aljoscha Brell kritisieren zu Recht: Erst die Abstimmung verschlafen und dann die Senioren verantwortlich machen, die als morgendliche Bettflüchter der Brexit-Kampagne zur Mehrheit verholfen haben.

Der Brexit ist ja nur der Höhepunkt im ersten Akt. Das große politische Stück über die Zukunft Europas geht weiter. Und die taz ist Gott sei Dank mittendrin. Frankreich, die Niederlande, Dänemark und in gewisser Weise auch die Türkei. Zerfällt die Friedensordnung der vergangenen 15 Jahre? Und was können wir dagegen tun? Welche Rolle muss unser Land, unsere Generation, unsere Zeitung einnehmen? Gestern las ich, dass die Türkei 2002 die Todesstrafe abschaffte, um den Weg in die EU zu ebnen.

Vollbart, Sie ahnen es, ein Hipster

Wissen wir, was wir an Europa haben? Oder erkennen andere das besser: Anfang Juli saß ich in einem Imbiss an der Berliner Kastanienallee. Am Nachbartisch erzählte ein junger, aber vielgereister Amerikaner (Vollbart, Sie ahnen es, ein Hipster) zwei schönen Neuseeländerinnen von seiner Reise durch Westchina, nur um ihnen anschließend seine Liebe zu Europa zu gestehen. Keine Grenzen, einfaches Reisen und Sicherheit überall. Die drei wollten die Nacht in Berlin gemeinsam durchzechen.

Ich bin sicher, Sie, liebe Genossinnen und Genossen, wissen, was Sie an einem friedlichen Europa haben – und was Sie an der taz haben, die Ihnen hilft, dieses Europa zu verstehen. Und Sie unterstützen unsere taz Genossenschaft ganz solidarisch, damit die der Aufgabe gerecht werden kann, in unruhigen Zeiten das Verstehen (nicht nur in Europa) möglich zu machen. Unsere Genossenschaft hat das wichtigste Mittel dazu – eine kluge Redaktion.

Kommen Sie zur Generalversammlung. Vor allem aber fördern Sie uns, damit wir das Verstehen weiterfördern können. Nie war die taz so wertvoll wie heute.

Für den Aufsichtsrat, Hermann-Josef Tenhagen