Aufschwung nur für Reiche: Armut in Russland wächst
Dank den Einnahmen aus Öl boomt die russische Wirtschaft. An den Gering- und Mittelverdienern geht der Aufschwung allerdings vorbei: Sie müssen immer mehr Geld für Lebensmittel aufwenden.
MOSKAU taz Russlands Wirtschaft brummt. Längst sind die Attribute des wachsenden russischen Reichtums im Westen zu Klischees geworden: Brillanten-beladene Frauen, Milliardäre, die der Welt teuerste Immobilien kaufen. Heerscharen von Touristen, denen nur Europas nobelste Ferienorte Erholung bieten können. All dies, so will es scheinen, zahlen sie aus der Portokasse.
Die volkswirtschaftlichen Rahmendaten halten plausible Erklärungen parat. Seit 2000 wächst die Ökonomie jährlich um 7 Prozent. Die Staatskasse quillt mit Petrodollars über. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Nicht alle Bürger haben teil an dem Boom. Das Gefälle zwischen Arm und Reich wächst. Grund dafür ist die weltweite Inflation, die auch um Russland keinen Bogen macht. Im ersten Halbjahr 2008 erreichte die Inflationsrate bereits 9 Prozent. Eine korrigierte Schätzung geht von 14 Prozent Inflation bis zum Jahresende aus.
Arme, Klein- und Mittelverdiener stöhnen besonders unter der Teuerungslast. Nach Erhebungen der Beratungsfirma FBK müssen Geringverdiener ein Viertel mehr für den Lebensunterhalt aufbringen als im Vorjahr, während die Inflation bei Wohlhabenden nur mit 12 Prozent zu Buche schlägt.
Preistreiber sind die Lebensmittel. Gemüse, Speiseöl und Teigwaren sind zwischen 20 und 36 Prozent teurer geworden. In Moskau verlangt der Bäcker für ein Brot 80 bis 90 Prozent mehr als im Vorjahr. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann sich laut Umfragen trotz gestiegener Löhne Konsumgüter wie Fernseher nicht mehr leisten.
Das FBK geht davon aus, dass in diesem Jahr die Zahl der unter dem Existenzminimum lebenden Menschen von 18,9 auf 20 Millionen steigen wird. Das 2004 anvisierte Ziel, den Anteil der Armen bis 2008 auf 8 Prozent der Bevölkerung zu senken, hat die russische Regierung verfehlt. Im Gegenteil, die Zahl der Bedürftigen nimmt heuer erstmals wieder zu und liegt bei mindestens 16 Prozent. Das hat es seit acht Jahren nicht mehr gegeben.
Kremlchef Dmitri Medwedjew macht die globale Nahrungsmittelkrise und die hohen Energiekosten für die Entwicklung verantwortlich, und auch Premier Putin hält die Inflation für importiert. Teilweise trifft dies zu.
Dennoch sind die meisten Probleme hausgemacht. Russland importiert 46 Prozent aller Lebensmittel und landwirtschaftlichen Grundstoffe für die weiterverarbeitende Industrie, da die heimische Landwirtschaft darniederliegt. In den Metropolen werden sogar 85 Prozent der Nahrungsmittel eingeführt.
Vor allem fehlt aber der Markt als Regulator. Die meisten Branchen sind monopolisiert. Maßnahmen, die Inflation einzudämmen, greifen nicht. Zwar fror die Regierung Preise für Weizen und andere Grundnahrungsmittel ein und verhängte hohe Ausfuhrzölle. Die Folge war: Die Waren wurden knapper, und nach der Freigabe stiegen die Preise noch schneller. Beim Kerosin zeigt sich die Monopolbildung besonders deutlich. Das Flugbenzin kostet in der Hauptstadt der Energie-Supermacht 20 Prozent mehr als in London oder Düsseldorf.
Die gewaltigen Staatseinnahmen aus dem Energieexport fließen nicht in die Industrieproduktion. Bei wachsender Nachfrage kurbelt das die teuren Importe an. Auch die im ersten Quartal 2008 um 45 Prozent gewachsenen Staatsausgaben heizen die Inflation zusätzlich an. Da die Kasse klingelt und der Gewinn stimmt, sehen russische Unternehmer keine Notwendigkeit, günstige Waren für den Massenkonsum zu produzieren.
Kleinverdiener schauen dagegen doppelt in die Röhre: Der Petroboom geht an ihnen vorbei, gleichzeitig jagt der Geldüberhang aber die Preise für das Lebensnotwendigste in die Höhe. Seit neun Monaten arbeitet die Regierung an einem Programm zur Inflationsbekämpfung. Noch wurde es der Öffentlichkeit nicht präsentiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren