Aufruhr in Griechenland: Exarchia ist überall
Längst sind nicht nur die Autonomen auf den Barrikaden, sondern eine ganze Generation lässt Wut und Frust raus - und empfindet Freude daran. Doch die Stimmung kippt.
ATHEN taz Die Skoufastraße verbindet zwei Welten: Im Nordosten des Lycabetushügels liegt Exarchia, das einst bürgerlich-vornehme Viertel hinter dem Polytechnikum und dem archäologischen Museum, heute Hochburg der Autonomen und - was damit nicht unbedingt etwas zu tun hat - Drogenumschlagplatz. Exarchia ist die Schattenseite des Lycabetushügels und für viele Athener verbotenes Gebiet. Auf der Sonnenseite liegt Kolonaki, das schicke Viertel der selbstverliebten Schicht von Neureichen und Arrivierten. Die Skoufa überquert die soziale Grenzlinie Athens.
Von Exarchia aus steigt die Straße leicht an, bis zur Anhöhe mit der Agios-Dionysios-Kirche. Links und rechts befinden sich Buchhandlungen, eine Klinik und die Fakultät für Chemie. Dann geht es runter auf die Sonnenseite. Hier werden teure Kleider feilgeboten und viel, sehr viel Schmuck. Schließlich mündet die Straße auf den Kolonaki-Platz mit seinen teuren Cafés, wo die Kundschaft gerne 5 Euro für einen Kaffee zahlt, damit sie gesehen wird.
Am Montagabend haben die Jugendlichen, die bis dahin ihren Aufstand auf das direkte Umfeld Exarchias beschränkt hatten, diese unsichtbare, aber offenbar von allen respektierte soziale Grenzlinie überwunden. Zunächst wurde das direkt auf der leichten Anhöhe liegende Café Filyo in Mitleidenschaft gezogen, dann zog die randalierende Menge weiter Richtung Kolonaki. Fensterscheiben gingen zu Bruch, Müllcontainer wurden angezündet, Autos umgeworfen. Aus der Nähe betrachtet war es eine merkwürdige Mischung, die da explodierte: Wut und Frustration, aber auch Freude. Freude darüber, dass endlich etwas in Gang gekommen war. "Jetzt kommt Kolonaki dran", schrie ein junger Mann - Frauen waren unter den Randalierenden kaum anzutreffen.
So klar Exarchia und Kolonaki für die Athener getrennt sind, so unklar bleibt die soziale Basis dieses Aufstands. Zwar begann er damit, dass in Exarchia ein 15-jähriger Jugendlicher nach einem Wortwechsel von einem Bereitschaftspolizisten erschossen wurde. Doch Alexis Grigoropoulos war der Sohn einer angesehenen Juweliersfamilie aus Kolonaki. Im Oberschichtviertel Kifissia im Norden Athens blockierten Schüler aus Protest gegen staatliche Willkür die Hauptstraße. Und die Zerstörungswut richtet sich nicht nur gegen Banken und Luxusgeschäfte, sondern auch gegen kleine Geschäfte und Kioske - beileibe nicht Repräsentanten des griechischen Großkapitals.
Das ist das Verwirrende an der jetzigen Krise. Als die autonome Bewegung noch als autonome Bewegung auftrat, waren die Fronten klar getrennt: Hier die Kämpfer für Gerechtigkeit, die gegen den allmächtigen Staat und seine Pfeiler in der Wirtschaft kämpften, dort die Polizei, die "Batsi", die Bullen. Die Autonomen sind immer noch da, doch ihre Bewegung hat sich ausgeweitet. Und dabei ist ihre Ideologie, sofern es sie je gab, auf der Strecke geblieben. Von den Autonomen übernommen hat die Jugend nur die Methoden sowie die totale Ablehnung der modernen griechischen Gesellschaft.
Exarchia war der Ausgangspunkt des spontanen Aufstands, dorthin zieht sich allabendlich auch jetzt noch der harte Kern der Straßenkämpfer in den Schutz des Universitätsasyls zurück - ein Erbe aus der Zeit nach der Obristenjunta, weil man eine Wiederholung der brutalen Niederwerfung des Studentenaufstands im November 1973 im Polytechnikum durch die Armee für immer ausschließen wollte. Doch jetzt sei Exarchia "plötzlich überall", kommentierte die konservative Tageszeitung Kathimerini. Exarchia als Lebensstil hat Besitz von einer Gesellschaft genommen, die glaubte, dieser bleibe für immer dort, im Schatten des Lycabetushügels.
Und es sind schockierende Bilder, welche die Griechen und Griechinnen in diesen Tagen vorgesetzt bekommen. So zeigte das Fernsehen, wie ein maskierter Jugendlicher unweit vom zentralen Syntagmaplatz mit einer Brechstange rund zwanzig Minuten lang das Panzerglas einer Bank bearbeitete. Er hat geschwitzt und wohl auch geflucht, bis das Glas endlich nachgab und er einen kleinen Freudentanz aufführte. Gleich darauf warfen seine Gefährten eine Benzinbombe in das Bankgebäude, das daraufhin lichterloh brannte.
In der Öffentlichkeit wird jetzt die Frage gestellt, was schiefgelaufen ist, was dazu geführt hat, dass eine ganze Generation Amok läuft. Dass das Bildungssystem eine reine Misere ist, weil die Kinder von klein an mit aberwitzigen Überstunden und dumpfem Nachhilfeunterricht in Privatschulen zu Papageien erzogen werden, ist bekannt. Dass Chancengleichheit vorgegaukelt wird, am Ende aber doch wieder die Parteizugehörigkeit der Eltern über die Vergabe von Stellen entscheidet, ebenfalls. Dass das alles aber zu dieser Gewaltexplosion geführt haben soll, das will man nicht wirklich glauben.
Der Innenminister hat, wie schon bei den verheerenden Waldbränden vor einem Jahr, etwas von Kreisen gefaselt, die ein Interesse an die Destabilisierung Griechenlands hätten. Ansonsten hätte der Staat perfekt funktioniert, sagte er noch, was von sämtlichen Medien mit Fassungslosigkeit beantwortet wurde. Die Regierung, das ist offensichtlich, will auch diese Krise einfach aussitzen. Und die sozialistische Opposition weiß nichts Besseres, als Neuwahlen zu fordern. Rechts und links werden Phrasen gedroschen. Alle wollen die Nöte der Jugend erkannt haben, doch diese hat jetzt eine eigene Agenda. Auf beiden Seiten der sozialen Wasserscheide Athens, wie im Rest des Landes.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen
Linksruck bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft