Ackern für das Bleiberecht

Rund 70.000 geduldete Geflüchtete haben über das neue sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht 18 Monate Zeit, eine Arbeit oder Ausbildung aufzunehmen. Hinter ihnen liegen oft Jahre der erzwungenen Untätigkeit

Menschen mit Mundschutz stehen in einer Fertigungshalle eines Eisherstellers

Szene bei der Berliner Firma Florida Eis im Juli: Fast die Hälfte der Mitarbeitenden des Unternehmens sind Geflüchtete Foto: Christian Ditsch

Von Barbara Dribbusch

Die Uhr läuft. „Wir haben nicht viel Zeit, um eine Ausbildung, eine Arbeit zu finden“, sagt Nadia Hadid*. Seit Anfang des Jahres verfügen die 38-Jährige und ihr Mann über einen sogenannten „Chancen-Aufenthalt“. Das neue Gesetz gewährt geduldeten Geflüchteten eine Aufenthalts- und Beschäftigungserlaubnis für 18 Monate, in denen sie eine Arbeit finden müssen, die ihren Lebensunterhalt überwiegend sichert. Sie können auch eine Ausbildung beginnen, die ihre finanzielle Unabhängigkeit in der Zukunft erwarten lässt.

Klappt es mit der Job- oder Ausbildungssuche, bekommen die Hadids eine reguläre längerfristige Aufenthaltserlaubnis. Andernfalls fallen sie wieder zurück in die Duldung. „Das Jobcenter hat gesagt, wir müssen uns selbst etwas suchen“, erzählt Nadia Hadid.

Es ist heute zwar leichter als früher, dass Geduldete eine Beschäftigungserlaubnis von den Ausländerbehörden bekommen, wenn sie ein Jobangebot vorweisen können. Doch Arbeit allein verschafft Menschen, die in Deutschland nur geduldet sind, keinen Abschiebeschutz. Der Chancen-Aufenthalt beinhaltet dagegen eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Dies verbessert auch die Chancen auf einen Job, da allein das dazugehörige Dokument die Aufschrift „Aufenthaltstitel“ trägt und die Duldung ablöst. In einer „Duldung“ steht in roten Lettern und mit Ausrufezeichen versehen: „Aussetzung der Abschiebung (Duldung). Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!“ So etwas schreckt Arbeitgeber ab.

„Wer den Chancen-Aufenthalt nutzen kann, für den ist das Gesetz eine tolle Sache“, sagt Nyla Becker. Sie ist Coach bei einer Hamburger Gesellschaft namens Passage, in der in einem Projektverbund auch die Hadids beraten werden.

Die Geduldeten haben oft sehr wechselhafte Erfahrungen mit Arbeitsgenehmigungen und der Jobsuche hinter sich und mitunter viele Jahre gar nichts machen können. Ihr Mann habe eine Weile als Küchenhelfer in einem Restaurant gearbeitet, berichtet Hadid. Doch dann erhielt er keine Arbeitsgenehmigung mehr und verlor seinen Job. Sie wollte eine Ausbildung machen, was ihr die Behörden nicht gestatteten. Auf der Abendschule lernte sie Deutsch.

Die Hadids waren mit zwei Söhnen im Jahre 2015 aus Bagdad nach Hamburg gekommen und stellten einen Asylantrag. Dieser wurde abgelehnt, die Familie aber geduldet wegen der prekären Sicherheitslage im Irak.

Der 22-jährige Sohn ist heute Industriemechaniker mit Berufsabschluss und will seinen Meister machen, erzählt die Mutter. Der 13-jährige Sohn geht auf das Gymnasium. Jetzt, mit dem Chancen-Aufenthalt möchte Nadia Hadid ein Praktikum in einem Krankenhaus beginnen. „Danach arbeite ich vielleicht in der Pflege“, erzählt sie. Mittelfristig würde sie gerne eine Ausbildung zur Arzthelferin machen. Früher, in Bagdad, habe sie als Kosmetikerin gearbeitet. Ihr Mann habe in Deutschland eine Weiterbildung zum Busfahrer gemacht und suche einen Job.

Zum Mai diesen Jahres besaßen fast 70.000 Personen das Chancen-Aufenthaltsrecht nach Paragraph 104c des Aufenthaltsgesetzes, so die Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Auf den Paragraph, der seit Januar 2023 gilt, können sich jedoch nur Geflüchtete beziehen, die zum Stichtag am 31. Oktober 2022 mindestens fünf Jahre ununterbrochen in Deutschland gelebt haben. Für die 18 Monate im Chancen-Aufenthalt haben sie dann auch Anspruch auf Bürgergeld.

„Das Gesetz öffnet ein Tor“ sagt Bojan Mijalkovic*, 30 Jahre alt. Er kam im Jahre 2016 mit seiner Frau und der ersten Tochter, damals ein Baby, aus Nordmazedonien nach Deutschland. Der Asylantrag war chancenlos, aber die Familie wurde nicht abgeschoben, aus medizinischen Grünen, die Tochter ist schwerstbehindert.

Als Geduldete aus einem sicheren Herkunftsland bekamen die Mijalkovics hier keine Beschäftigungserlaubnis, keine Sprachkurse. „Es war schade, dass wir so viele Jahre nicht arbeiten konnten“, sagt der Vater, „Deutsch haben wir uns selbst beigebracht, auch durch das Fernsehen.“ Inzwischen hat er einen Abschluss auf dem Level B1 und kann sich gut verständigen.

In Nordmazedonien hatte er eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht und dort in einem Supermarkt gearbeitet, erzählt er. Hier möchte er im September eine Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik beginnen. Es wäre nach acht Jahren in Deutschland, in denen er nicht arbeiten durfte, der erste Job. „Die Duldungen wurden immer wieder verlängert, dieses Warten ist ein dauernder Stress“, schildert Mijalkovic.

Becker von der Initiative Passage erzählt, sie habe Geflüchtete beraten, die inzwischen bei der Deutschen Bahn in der Wartung hälfen, in die Pflege gingen oder bei der Post Briefe sortierten. Nur wenige Menschen seien im Chancen-Aufenthaltsrecht. „Die Voraussetzungen erfüllt nur eine kleine Gruppe“, so Becker. Schon allein der Stichtag grenze die Gruppe ein.

Becker erlebt öfter, dass ihre Kli­en­t:in­nen in prekären Jobs arbeiten, etwa bei Lieferdiensten und im Versandhandel. „Oft geht es darum, die Probezeit zu überstehen, die Firmen können es sich leisten, die Leute schnell rauszuwerfen“, berichtet sie. Unternehmen mit Arbeit, für die nur geringe oder gar keine Deutschkenntnisse erforderlich sind, können auf einen Pool an Mi­gran­t:in­nen zugreifen, die auf Jobs mit wenig Anforderungen an Deutschkenntnisse angewiesen sind. „Zum Beispiel große Logistikunternehmen stellen ständig neue Leute ein, die nicht Deutsch sprechen. Die Arbeit ist hart. Und sie tun nicht viel, um die Leute zu halten“, berichtet Becker, „die Unternehmen profitieren letztlich von der prekären aufenthaltsrechtlichen Situation der Arbeitssuchenden“.

Frank Langner ist Berater für Geflüchtete mit unsicherem Aufenthaltsstatus bei einem Hamburger Projekt des Trägers Basis und Woge. Er habe Geduldete in Mechaniker-Lehren und Ausbildungen als Al­ten­pfle­ge­hel­fe­r:in­nen vermittelt, erzählt er. Seine Kli­en­t:in­nen profitieren von der „Ausbildungsduldung“, einem Gesetz, das Geduldeten während der Zeit der Lehre und einer Beschäftigungszeit danach einen Abschiebeschutz gewährt. „Es gibt unseriöse Ausbildungsbetriebe“, so Langner, „aber die vermeiden wir. Die unseriösen Ausbildungsverhältnisse kommen manchmal zustande, wenn die Leute sich selbst etwas suchen“.

„Das Gesetz öffnet ein Tor.“

Bojan Mijalkovic, 30, will eine Ausbildung zum Lagerlogistiker absolvieren

Langner beriet auch Anwar Bakar*, der mit 14 Jahren als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Ägypten nach Hamburg gekommen war und dessen Asylantrag abgelehnt wurde. Bakar hatte damals keinen Pass, also konnte er nicht zurück nach Ägypten ab­geschoben werden. Er erhielt eine Duldung, besuchte die Schule, bekam aber lange Zeit keine Erlaubnis, zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen. Als er sich aus der Heimat einen Pass beschaffen konnte, war für ihn der Weg in eine Ausbildungsduldung frei.

Bakar, heute 25, absolvierte in einer Baufirma ein Praktikum und fiel dort durch gute Arbeit auf. „Ein Praktikum schlägt alles, wenn es die Arbeitgeber überzeugt“, sagt Langner.

Inzwischen ist Bakar gelernter Tiefbaufacharbeiter und sattelt noch ein Jahr Ausbildung drauf, dann ist er auch Straßenbauer mit Berufsabschluss, erzählt er. Sein Unternehmen will ihn unbedingt halten. Er hat jetzt eine reguläre Aufenthaltserlaubnis. „Viele Jahre nicht arbeiten zu dürfen“, sagt Bakar, der fließend Deutsch spricht, „was ist das für eine Verschwendung“.

*Namen geändert