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AufarbeitungProzeß in Prag nach 673 Monaten

Die tschechische Staatsanwaltschaft ermittelt in Sachen Milada Horáková, dem bekanntesten Opfer der stalinistischen Verfolgung der 50er Jahre.

Zwei Dekaden Antistalinismus: 1950 wurde Horáková als "Staatsfeindin" hingerichtet, 1968 schlugen Panzer die Prager Frühling-Aufstände nieder. Bild: dpa

PRAG taz Späte Gerechtigkeit oder Vergangenheitsbewältigung auf den letzten Drücker in Tschechien? Für ihre Rolle in einem fast 60 Jahre zurückliegenden Schauprozess soll Ludmilla Brozová-Poledná sich jetzt vor Gericht verantworten. Als Volksprokuratorin hatte Brozová-Poledná im Juni 1950 das Todesurteil für Milada Horáková gefordert. Die Politikern wurde kurz darauf als "Staatsfeindin" hingerichtet.

Ende Juli dieses Jahres, so ziemlich genau 673 Monate nach der Hinrichtung Horákovás, nahm die Staatsanwaltschaft Pilsen die Ermittlungen gegen Brozová-Poledná auf. Die 86-jährige ist die letzte Überlebende des Horáková-Prozesses und wie sie selbst sagt, "mit einem Bein schon im Krematorium". Was wären dagegen schon 10-15 Jahre Gefängnis, das Strafmaß, das der einstigen Staatsanwältin nun droht. "Dann muss ich hundert Jahre alt werden," meint sie und bedauert, dass ihr der Prozess erst jetzt gemacht werden soll. Denn heute leide sie unter Sklerose. "Vor 17 oder 18 Jahren, da hätte ich noch etwas im Kopf gehabt," sagte Brozová-Poledná der tschechischen Tageszeitung Lidové noviny.

An dem Erinnerungsvermögen der ehemaligen Änklägerin scheint der Zahn der Zeit kaum genagt zu haben. "Wieso unschuldig?" entgegnet sie auf Fragen nach Milada Horáková. "Es herrschte doch der kalte Krieg, da gab es auf beiden Seiten Opfer," sagt sie. Horáková habe sich schließlich schuldig gemacht, sie sei gegen den Staat gewesen. "So waren unsere damaligen Normen," sagt Brozová-Poledná. Und: "Horáková tat etwas, was sie nicht tun sollte."

Milada Horáková eine Antikommunistin zu nennen, würde ihr nicht gerecht werden. Die studierte Juristin kämpfte gegen den Totalitarismus. Den zweiten Weltkrieg verbrachte sie größtenteils in der Kleinen Festung in Theresienstadt, dem berüchtigten Gestapo-Gefängnis. Wegen ihrer Rolle im antifaschistischen Widerstand wurde sie 1940 von den Nazis zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch später in eine lebenslange Haftstrafe geändert. Horákovás Henker sollte nicht eine braune, sondern eine rote Kapuze tragen.

Denn das kommunistische Regime stalinistischer Prägung, das 1948 die Macht in der Tschechoslowakei ergriff, war ebenso wenig akzeptabel für Horáková, die seit 1945 für die Tschechoslowakische National-Sozialistische Partei (eine Partei sozialer und demokratischer Prägung) im Parlament saß. Heute noch wird ihr hoch angerechnet, dass sie nicht während des Schauprozesses zusammenbrach, der 1950 wegen angeblicher staatsfeindlicher Aktivitäten gegen sie geführt wurde.

Prozessprotokolle belegen, wie stolz und selbstbewusst sich Horáková vor dem Gericht verteidigte, anstelle sich dem vorgefertigten Szenario des Schauprozesses zu fügen. Auf besonders brutale Weise sei sie dann gehenkt worden, behaupteten später Zeugen der Hinrichtung. Der wohnte Ludmilla Brozová-Poledná nicht bei. Vielleicht würde sie sonst heute zumindest Bedauern empfinden für das Todesurteil, das sie damals forderte. Das wird ihr jedoch kein Gericht aufzwängen können.

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1 Kommentar

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  • SS
    Sascha-Boris Schlender, Stadtresidenz

    Ich schrieb in einem Mitteilungstelegramm an den israelischen Premier Ehud Olmert "Wenn Du über eine die Völker in Liebe verbindende Brücke des Friedens zu gehen wünscht, musst Du bereit sein, selbst ein Stein dieser Brücke zu sein!".

    Das selbige gilt auch jetzt. In dieser Zeit. Im Umgang mit unser aller nicht zu leugnender Vergangenheit, mit welcher wir alle mehr als wir sehen wollen, vereint sind. Unsere Vergangenheit, die historische Vergangenheit Europas, ist die Mutter unserer Wurzeln.

    Unsere gemeinsame Vergangenheit als vereinigende Mutter unserer Herkunft, unseres heutigen Daseins, anzuerkennen, ist die einzige Möglichkeit, um mit dieser umzugehen und hieraus ein die Fehler der ewig Gestrigen unterlassend lebensbejahendes Morgen zu schaffen.

    Dafür haben wir heute eine Stimme. Dafür haben wir heute freies Wort. Dafür besitzen wir heute unser Recht, beides friedfertig zu gebrauchen. Um den Frieden und um eine neutrale Toleranzgesellschaft zu bilden mit dem Ziel, in Gemeinsamkeit Brücken über die Kluft des Gestern zu errichten.

    Besinnen wir uns auf das, was uns einmal stark gemacht hat: Einigkeit. Und mögen wir aufhören, über die Schwächen zu klagen, die uns die Stärke alter Gegner zufügt. Wir werden unserer Rolle in Europa nur gerecht, wenn wir die Kraft, die wir zum Wehklagen belieben zu verbrauchen, gemeinsam nach vorne richten. Die Wunden der Vergangenheit anerkennen, um aus dem Schmerz das Wissen zu ziehen, wie wir es in Zukunft vermeiden können. Nur so mag es uns gelingen, ein einiges Europa zu bilden. Inmitten der Nachbarn GUS und USA. Die Stabilität zwischen den Mühlsteinen West und Ost basiert auf Zusammenhalt. Es gibt nur ein starkes Europa, wenn wir Lösungen für die Probleme von morgen finden, anstatt den Schuldigen für die Fehlerquelle der Probleme von heute.

    Wer Europa will, sagt Ja zur Vergangenheit und Nein zum Morgen von Gestern!

    Herzlichst, Ihr Sascha-Boris Schlender, Stadtresidenz