Auf du und du mit der Psychiatrie: Bremerhavener schlagen Alarm
■ Die einzige Tagesstätte für psychisch Kranke steht auf dem Prüfstand
Über 700 Protestunterschriften sollen dem Bremerhavener Dezernent für Soziales, Umwelt und Gesundheit, Hartmut Chris-tiansen, kommenden Freitag übergeben werden. „Die Boje soll dicht gemacht werden“, fürchtet Sigrid Buddrus um die einzige Bremerhavener Tagesstätte für psychisch Kranke, deren Leiterin sie ist. Dagegen haben Betroffene, Personal und Verwandte unterschrieben. „Das geht doch nicht. Man kann die Leute doch nicht einfach zu Karstadt oder sonstwohin schicken“, sagt Buddrus.
Sozial-Dezernent Hartmut Christiansen sieht der Unterschriftenübergabe mit Genugtuung entgegen – soll sie doch seine Position gegenüber der Sozialbehörde des Landes Bremen stärken. Die habe ihm im Februar unerwartet eröffnet, daß die Finanzierung der „Boje“ durch das Land nicht weiterlaufen könne.
Nach Verhandlungen fließen jetzt zwar die Pflegesätze für rund 28 tagsüber Betreute bis Jahresende nach Bremerhaven. „Aber auch danach können wir die Einrichtung nicht kommunal finanzieren“, wehrt sich Christiansen gegen das bremische An-sinnen, Bremerhaven müsse für die „Boje“ aus städtischen Mitteln zahlen. Außerdem sei die Bremer Planung dafür „völlig willkürlich“.
Was das Bremer Sozialressort als einen Versuch bezeichnet, die Betreuung von psychisch Kranken effektiver zu gestalten, halten Bremerhavener nämlich für den Versuch, auf ihre Kosten zu sparen. Dafür sei auch ein „künstlicher Expertenstreit“ vom Zaun gebrochen worden. Der dreht sich um die Frage, ob die Betreuung der psychisch Kranken in der „Boje“ „ambulant“ oder „teilstationär“ stattfindet.
Die Auslegung dieser nach Häufigkeit und Länge des Aufenthaltes der Kranken in der „Boje“ streng definierten Begriffe wird bestimmen, wer künftig zahlt: das Land für „teilstationär; die Kommune für „ambulant“. So steht es im Bundessozialhilfegesetz.
„Wir haben ein gutes Gewissen“, sagt Sozialdezernet Chris-tiansen. In den Akten der Bremerhavener Sozialbehörde lägen ärztliche Atteste, die viele Boje-BesucherInnen für die „teilstationäre“ Betreuung empfehlen. „Das hat Bremen vierteljährlich geprüft und nie beanstandet“. Warum aber in Bremerhaven vergleichsweise mehr Menschen als in Bremen teilstationär – und damit auf Landeskosten – versorgt werden, kann er nicht erklären. Auch der Leiter des Sozialamts, Artur Bartelt, kennt den Grund nicht. „Vielleicht besonderer Schwermut im Norden“, witzelt er und fügt ernster hinzu: „Man muß das Umfeld betrachten“ – und das sei in der Seestadt mit viel Arbeitslosigkeit schwierig.
Daß die Bremer alles neu organisieren wollen, vielleicht sogar mit einem Budget für Psy-chiatrie, leuchtet ihm nicht ein. „Die Tagesstätten sind mit der Auflösung der Psychiatrie in Blankenburg in den 80er Jahren entwickelt worden“, sagt er. Im Senat habe es nie Zweifel gegeben, daß diese eine Landesangelegenheit seien.
Ein Gutachten soll jetzt klären, wie die Versorgung psychisch Kranker in Bremerhaven aussieht. „Wir wollen die Boje nicht schließen“, heißt es im Sozialressort. ede
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