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Auf dem Goldenen Steig

Stuckateure aus Italien, Salzhändler aus aller Welt: Schon vor 200 Jahren war der Böhmerwald eine echte Euregion

aus Freyung und České BudějoviceSABINE HERRE

Zwischen den Gleisen des Bahnhofs von Freyung steht das Gras einen halben Meter hoch. Wer von hier, dem südlichen Tor des Böhmerwalds, auf die nördliche Seite des Hochwalds will, braucht Zeit. Zehn Stunden in Bus und Bahn für 40 Kilometer. Aber auch aus dem ebenso weit entfernten Passau im Süden kommt in Freyung – einer Stadt mit immerhin 7.000 Einwohnern – seit 1982 kein Zug mehr an. Fast scheint es, als sei die Öffnung der Grenzen an der höchstgelegenen Kreisstadt Deutschlands vorbeigegangen.

Tatsächlich jedoch hat die Region wie kaum eine andere vom Ende des realen Sozialismus profitiert. Bis nach Prag sind es gerade mal zweieinhalb Autostunden, weniger als nach München. Die Tschechische Republik ist nicht nur wichtiges Exportland, gleich mehrere Freyunger Unternehmen lassen hier auch billig produzieren. Nur reden will keiner so recht darüber.

Eine Ausnahme ist Christof Anolick. Im Wohnzimmer baute sein Vater vor 23 Jahren eine eigene Schneiderei auf und jetzt näht die Textilfirma Anolick für Escada. Doch ohne eine eigene Produktionsstätte in Tschechien hätte sie ihren wichtigsten Auftraggeber längst verloren. 20 Arbeitsplätze entstanden in Südböhmen, 20 wurden in Freyung abgebaut. Doch 35 konnten so immerhin erhalten werden. Eine Ausnahme – Textilien in Deutschland zu produzieren ist heute, so der Juniorchef, „einfach zu teuer“. Nur 3,20 Mark, 20 Prozent des deutschen Lohns, erhält eine tschechische Näherin pro Stunde. Anolick: „So einfach vergleichen darf man das aber nicht. Der Leistungsgrad in Freyung liegt bei 85, drüben aber nur bei 50 Prozent.“ Und daher lässt man im Böhmerwald auch nur die einfachen Arbeiten nähen, Zuschneiden und Endfertigung erfolgt in Freyung. Fünfmal die Woche fährt der Firmenchef mit einem Kombi voll feinster Seide über die Grenze.

Streitfall Temelín

Die EU-Osterweiterung wird die Situation nicht wesentlich verändern. Die Kontrolle beim Zoll wird wegfallen und vielleicht wird es noch etwas schwieriger werden, gute Näherinnen zu finden. „Selbst in Tschechien kann sich für diese niederen Handarbeiten fast niemand mehr begeistern. Alle wollen studieren. Wir würden unsere Produktion dort gern ausbauen.“

Auch für die Stadt Freyung ist die Osterweiterung kein großes Thema. Was die Menschen viel mehr bewegt, sind die dauernden Störfälle im gut 100 Kilometer entfernten Atomkraftwerk Temelín. „Da gehen jetzt jahrelange Freundschaften mit den Tschechen kaputt“, sagt Kaspar Sammer, Geschäftsführer der „Euregio Bayerischer Wald –Böhmerwald“. Und meint damit: Seit 1994 hat man die Zusammenarbeit zwischen Städten und Gemeinden der Euregio aufgebaut und jetzt verstehen die Tschechen nicht, warum die Deutschen die Stilllegung ihres AKW fordern. Es scheint, als seien die Verantwortlichen, die sich jahrelang vor allem mit dem Abschöpfen von EU-Mitteln für grenzüberschreitende Projekte beschäftigten, von der Politisierung überrascht worden. Auf einmal geht es um mehr als den Bau eines Adalbert-Stifter-Radwegs.

Euregio-Geschäftsführer Sammer ist mit allen Feinheiten der EU-Förderung vertraut. Wenn man zusätzliches Fachwissen braucht, reist für einen Nachmittag ein Vertreter des Wirtschaftsministeriums aus München an. Dabei befindet sich die Euregio bei der Beantragung der Brüsseler Gelder in einem Konflikt. Soll man die B 12, wichtigste Verbindung nach Böhmen, ausbauen, oder vertreibt man dadurch Touristen? Für Sammer geht beides zusammen, die tschechischen Behörden aber sind in Sachen Umweltschutz strenger. So versagten sie selbst einem grenzüberschreitenden Wanderweg die Genehmigung. Der Schutz des Nationalparks war wichtiger. Was die niederbayerischen Unternehmer momentan besonders umtreibt, ist die Zukunft der europäischen Strukturpolitik. Schon bald könnten die Gelder aus Brüssel nicht mehr nach Freyung, sondern ins benachbarte České Budějovice fließen. Ohne die EU-Milliarden hätte es „Bayerisch-Sibirien“ aber nie geschafft, den Rückstand gegenüber dem Rest des Landes wenigstens einigermaßen aufzuholen. Und noch immer pendeln jeden Morgen Tausende „Waldler“ ins 200 Kilometer entfernte BMW-Werk Dingolfing. Die Unterstützung der Grenzregion sei also weiterhin „bitter nötig“, meint man in Freyung.

Bei der Industrie- und Handelskammer in Passau sieht man das etwas differenzierter. „Die EU-Förderung, das ist doch staatliche Wettbewerbsveränderung“, sagt etwa Hauptgeschäftsführer Walter Keilbart. Viele bayerische Unternehmer würden es sich wohl nicht entgehen lassen, ihre Produktion vorübergehend nach Tschechien zu verlagern und so in den Genuss des Brüsseler Geldes zu kommen. Und außerdem: Viele Regionen nützten die Subventionen noch zu häufig für den Erhalt überkommener Industriestrukturen. Die Passauer wollen die EU-Millionen dagegen für wirklich grenzüberschreitende Projekte einsetzen. Für den Bau einer Bahnverbindung zum Beispiel.

Da die IHK übermäßige Regulierungen ablehnt, kann man auch die vom Bundeskanzler geforderte siebenjährige Übergangsfrist für Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht unterstützen. Stattdessen plädiert die „Arbeitsgemeinschaft der Wirtschaftskammern der Grenzregionen“ für möglichst flexible Zuwanderungsquoten. Die bereits heute gelten sollen.

Euregion aus Tradition

Überhaupt denkt man in Passau weniger bayerisch und mehr europäisch. Jahrhundertelang stand die Dreiflüssestadt unter der Herrschaft der mächtigen Passauer Erzbischöfe und kam erst 1803 zu Bayern. Schon immer war sie wichtige Durchgangsstation für Kaufleute und Künstler aus ganz Europa. Italienische Stuckateure zogen den Inn herauf und weiter bis Prag. Über den Goldenen Steig brachten Salzhändler das einst kostbare Gut nach Böhmen. Seit 49 Jahren gibt es die Europäischen Festwochen, vier Wochen lang wird in diesem Jahr unter dem Motto „An Donau und Moldau“ musiziert. Ziemlich vernachlässigt wirkt dagegen das kleine Böhmerwaldmuseum in der Veste Oberhaus hoch über dem Inn. Gerade mal zwei kleine Zimmer hat man den Vertriebenen zur Verfügung gestellt, seit den Sechzigerjahren scheint sich hier nichts verändert zu haben.

Wenige Kilometer den Inn aufwärts, in Neukirchen, hat die „Bauinnung Unterer Bayerischer Wald“ ihren Sitz. Diejenige Interessenvertretung deutscher Unternehmen also, die sich am meisten Sorgen über die Osterweiterung machen. Der Bauboom in Ostdeutschland ist lange vorbei und jetzt droht die Konkurrenz tschechischer Baufirmen. Nur ein Zehntel der deutschen Löhne zahlen diese ihren Arbeitern. „Deutsches Recht auf deutschen Baustellen“, fordert daher Obermeister Josef Stöcker. Das heißt: Tschechische Unternehmen sollen für Tschechen, die auf deutschen Baustellen arbeiten, die gleichen Sozialleistungen und Löhne wie für die Deutschen zahlen. Auch Stöcker weiß, dass die siebenjährige Übergangsfrist eben nur eine Frist ist. Wie sie danach mit der neuen Konkurrenz fertig werden, darum müssen sich die Betriebe schon selbst kümmern. Globalisierung ist auch für die Bauwirtschaft in Neukirchen ein Thema: „Alles wird doch immer schneller“, sagt Josef Stöcker und ist dabei, seinen Familienbetrieb in ein modernes Dienstleistungsunternehmen umzubauen. Im Übrigen hat auch Stöcker schon jenseits der tschechischen Grenze günstig Balkone fertigen lassen. Und er beschäftigt Tschechen, wenn er keine deutschen Arbeitskräfte findet. Denn trotz Krise der Branche mangelt es an Facharbeitern.

Eine deutsch-tschechische Kooperation im Bereich Bauwirtschaft gibt es auch in der größten Stadt Südböhmens, in České Budějovice. Doch hier geht es um mehr als nur Balkone. Vor modernsten Computern sitzen rund 40 Konstrukteure und arbeiten an Projekten für die Anlage- und Hochbaufirma Oschatz in Essen. Der Kontakt mit der deutschen Zentrale erfolgt fast ausschließlich per Internet: riesige Datenpakete über Dampfkessel oder Kläranlagen werden in Minutenschnelle hin- und hergeschickt, diskutiert und präzisiert. Doch bis es so weit war, ist ziemlich viel Budweiser tschechische und deutsche Ingenieurkehlen hinuntergeflossen. „Die Deutschen hatten Zweifel, ob das mit diesen Tschechen klappen kann. Doch das Hauptproblem, das war die Sprache“, sagt Geschäftsführer Petr Jindra, der die Firma 1993 mit nur drei Ingenieuren gründete. Für die Tschechen hat sich der Einsatz gelohnt. Mit 18.000 Kronen Verdienst, rund 1.000 Mark, liegen sie 5.000 Kronen über dem tschechischen Durchschnitt. In Essen hat man die Konstruktionsabteilung fast ganz abgebaut.

Und während man in Freyung den Verlust europäischer Subventionen fürchtet, ist man in Südböhmen überrascht, dass es so etwas überhaupt gibt. Petr Jindra, der einst beim inzwischen zahlungsunfähigen Maschinenbaukonzern ČKD Dukla arbeitete, erhofft sich vom EU-Beitritt der Tschechischen Republik das Gegenteil: „Die tschechischen Unternehmen müssen endlich lernen, dass der Staat ihnen nicht hilft.“ Und aus diesem Grund lehnt er auch Übergangsfristen ab: „Bisher mussten wir mit der Konkurrenz aus dem Westen zurechtkommen. Jetzt muss sich der Westen auf unsere Konkurrenz einstellen. Traut ihr euch das nicht zu?“

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