Auf Du und Du mit dem Sozialsparhammer: Behindertenverbände planen Widerstand
■ Veranstaltungsreihe startet morgen
Der Anlaß sei unerfreulich, sagt Horst Frehe, Vorsitzender der Behindertenorganisation „Selbstbestimmt Leben“. Doch immerhin hat das Thema „Abschied vom Sozialstaat“ jetzt acht Organisationen behinderter Menschen und der Behindertenhilfe in Bremen zusammengebracht. Gemeinsam wollen sie mit einer Veranstaltungsreihe an die Öffentlichkeit gehen. Vom kommenden Dienstag an bis Anfang März 1997 sollen Wissenschaftler, Juristen, Ärzte und Behindertenvertreter über das Thema „Wert und Würde menschlichen Lebens – Sozialabbau und Ökonomisierung in der Gesellschaft“ referieren. Erst gezielte Information, dann Gegenwehr – das ist ihr Motto.
Denn Schlaglichter wie Pflege im Minutentakt, weniger ambulante Hilfsangebote, genetische Auslese zeigen, „daß das Lebensrecht insbesondere behinderter Menschen zunehmend in Frage gestellt wird“, kritisiert Organisator Horst Frehe. Durch den Spardruck im Gesundheitswesen, „fallen Leistungen für bestimmte Personengruppen einfach weg“, so Frehe. „In England dürfen über 60jährige schon gar nicht mehr an ein Dialysegerät, weil das zu teuer ist“, sagt er.
Zwanzig Referenten wollen nun dieser Verquickung von Ökonomie, Politik und gesellschaftlicher Ethik kritisch auf den Grund gehen. Doch nicht nur „Larmoyanz ist angesagt, sondern auch alternative Gegenmodelle sollen vorgestellt werden“, erklärt Willehad Lanwer vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Bremen.
Wichtige Themen sind vor allem das neue Pflegeversicherungsgesetz, der Status quo beruflicher Rehabilitation und eine Qualitätssicherung im Gesundheitswesen. Die Qualitätsdiskussion soll am Dienstag, 15.10., um 19 Uhr anlaufen.
„Statt über die Würde eines Menschen zu reden, wird dieser nur noch in Preisen ausgedrückt. Es wird gefragt, wo sich noch etwas mehr rationalisieren läßt“, kritisiert der Behindertenpolitiker Frehe weiter. Deshalb soll zum Thema „Ökonomisierung kontra Lebensqualität“ die Behindertenpädagogik-Professorin Iris Beck aus Hamburg sprechen. Sie beschäftigt sich mit Qualitätssicherung in der Pflege geistig behinderter Menschen. Auch Jürgen Blandow, Sozialpädagogik-Professor in Bremen, steht mit seiner sozialpolitischen Sicht auf dem Programm.
Die Diskussion soll dann im Januar '97 weitergeführt werden: über das neue Pflegeversicherungsgesetz und seine Konsequenzen für behinderte Menschen. Zu „Gesundheit als Privileg“ reden Klaus Lachwitz, Justiziar der Lebenshilfe in Marburg, und Theo Frühauf, Geschäftsführer der Lebenshilfe Marburg. Lachwitz hat sich bundesweit vor allem mit der zweiten Stufe der Pflegeversicherung auseinandergesetzt. Auch der schwedische Behindertenpolitiker Adolf Ratzka aus Stockholm ist geladen. Der gerupfte Sozialstaat Schweden hat jetzt ein neues „Assistentengesetz“ auf den Weg gebracht, das ambulante Pflege verbessert und dabei sogar noch Kosten spart.
Mit dieser Veranstaltungsreihe sei eine neuer Anfang gemacht, da sind sich die OrganisatorInnen sicher. Denn auch bundesweit formiert sich langsam Widerstand „gegen den Abbau des Sozialstaates“, erklärt Behindertenpolitiker Horst. Noch in diesem Jahr soll in Bonn ein bundesweiter Behindertenrat gegründet werden – ein Gremium, das alle Behindertenverbände zusammenführt. Frehe: „Dann wird es politisch bald ordentlich knallen.“
-Auftaktveranstaltung „Was ist der Mensch? Nie wieder Opfer!“ am Dienstag, 15. Oktober, 19 Uhr. Mit Wolfgang Jantzen, Behindertenpädagogik-Professor aus Bremen. Horst Frehe, Sozialrichter und Behindertenpolitiker, Bremen.
-„Europa – Ende des Sozialstaates?“ am Dienstag, 29. Oktober um 19 Uhr. Mit Jörg Hufschmied, Ökonomie-Professor aus Bremen, und Rudolf Bauer, Sozialwissenschafts-Professor aus Bremen.
Alle Veranstaltungen finden im Gehörlosenfreizeitheim, Schwachhauser Heerstr. 266 statt. Weitere Infos: Landesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte“, Waller Heerstr. 55, Tel. 387 77 14. kat
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen