Atomreaktoren erreichen Halbzeit: Keine Anstrengungen zum Ausstieg
Deutsche Reaktoren haben fast die Hälfte der ihnen zugestandenen Strommengen produziert. Scheinbar hoffen die Betreiber, dass der Atomkonsens 2009 hinfällig wird.
SALZGITTER taz | In den kommenden Wochen geht Deutschland nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) der "Halbzeit beim Atomausstieg" entgegen. Das Amt überwacht die im Ausstiegsgesetz festgeschriebenen Strommengen, die die deutschen Atommeiler noch produzieren dürfen, bevor sie abgeschaltet werden müssen. Laut BfS-Präsident Wolfgang König haben die deutschen AKW in den Jahren 2000 bis 2007 Jahres genau 47 Prozent jener insgesamt 2.623 Milliarden Kilowattstunden produziert, die ihnen laut Atomkonsens als "Reststrommenge" zustanden. Das Überschreiten der 50-Prozent-Marke bei der gesetzlich erlaubten Atomstromproduktion und damit die "Halbzeit beim Atomausstieg" erwartet das BfS daher bis zum Sommer.
Bei genauerem Hinsehen ergibt sich allerdings ein anderes Bild der Ausstiegsbemühungen: Von den 19 Atomkraftwerken, die bei Verabschiedung des Ausstiegsgesetzes in Betrieb waren, sind bislang erst 2 stillgelegt worden. Das waren die eher kleinen Reaktoren Stade und Obrigheim in den Jahren 2003 und 2005. Dem derzeit ältesten noch laufenden AKW Biblis A, das lange Zeit als heißer Kandidat für die nächste Stilllegung galt, stand nach der BfS-Statistik am Jahresanfang noch eine Reststrommenge von 13,7 Milliarden Kilowattstunden zur Verfügung.
Biblis A, das Mitte Februar nach eineinhalbjährigem Stillstand wieder ans Netz ging, hat im vergangenen Jahr keinen Strom produziert, also nichts von seiner Reststrommenge verbraucht. In den sechs Jahre zuvor erzeugte es im Schnitt 6,8 Milliarden Kilowattstunden Strom. Der Betreiber kann sich also mit der verbleibenden Reststrommenge bequem über die Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres retten. Die Übertragung von Reststrommengen von den Atommeilern Mülheim-Kärlich oder Emsland auf Biblis A, die RWE vergeblich beim Bundesumweltminister beantragt hatte, braucht es dafür nicht. Aufgrund der langen Stillstandszeit von Biblis A stehen mittlerweile den 1976 in Betrieb gegangenen AKW Brunsbüttel und Neckarwestheim 1 bereits geringere Reststrommengen zur Verfügung als dem noch zwei Jahre älteren hessischen Meiler. Neckarwestheim 1 darf ab Januar gerechnet noch 10,2 Milliarden Kilowattstunden erzeugen, Brunsbüttel 10,9 Milliarden. Angesichts einer durchschnittlichen Stromproduktion im vergangenen Jahrzehnt von 5,8 Milliarden Kilowattstunden in Neckarwestheim und von 4,6 Milliarden in Brunsbüttel werden auch diese über dreißig Jahre alten Meiler noch über den Wahltag kommen. Bei den übrigen 14 deutschen AKW ist das Abschaltdatum, das sich aus der Reststrommenge errechnet, ohnehin noch 4 bis 15 Jahre entfernt.
Nach der BfS-Statistik war 2007 ein schlechtes Jahr für die deutschen AKW-Betreiber. So standen zeitweise 7 der insgesamt noch 17 deutschen Atommeiler gleichzeitig still. Auch der hessische Block Biblis B produzierte nur einen Monat Strom. Brunsbüttel und Krümmel gingen im Sommer nach Störfällen vom Netz. Insgesamt lag die deutsche Atomstromproduktion mit 133 Milliarden Kilowattstunden 2007 um 17 Prozent niedriger als im Vorjahr. Dennoch überstieg die inländische Stromproduktion den inländischen Verbrauch um 19 Milliarden Kilowattstunden.
Die großen Energieversorger halten sich derzeit mit Investitionen in neue Kraftwerke und in den Umbau der Netze, den es für mehr regenerative Stromerzeugung braucht, eher zurück. Das moniert sogar die Deutsche Energie-Agentur. Die großen AKW-Betreiber setzen scheinbar auf die Bundestagswahl 2009 und hoffen, dass die Ausstiegsbemühungen danach eine folgenlose Episode werden.
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