Atomkrieg aus Versehen: Schlaf weiter. Es ist nur Krieg.
Fast wäre es 1980 zum Atomkrieg gekommen. Aber nicht, weil jemand den roten Knopf gedrückt hat. Sondern wegen Fehlern des Frühwarnsystems.
Eine Studie des maßgeblichen US-Konstruktionsbüros für Atomwaffen, des Sandia National Laboratories, spricht von mindestens 1.200 Atomwaffen, die von 1950 bis 1968 in „signifikante“ Unfälle verstrickt waren: Flugzeugabstürze, Bomben, die aus Versehen ausgeklinkt wurden, schwer zu löschende Brände vor allem auf B-52-Bombern mit riesigen Wasserstoffbomben in den Abwurfschächten.
Auch Schlamperei, Drogenmissbrauch oder Kompetenzgerangel führten zu absurden Zwischenfällen. Noch am 29. August 2007 wurden sechs Marschflugkörper mit Atombomben auf dem Luftwaffenstützpunkt Minot in North Dakota irrtümlich in einen B-52-Bomber mit dem schönen Namen Doom 99 geladen. Niemand bemerkte den Verlust. Es dauerte eineinhalb Tage, bis eine Wartungsmannschaft das halbe Dutzend Sprengköpfe in der Maschine bemerkte, auf einem 2.500 Kilometer entfernten Flugfeld.
Am ausführlichsten schreibt Schlosser in dem Buch „Command an Control“ über das Raketensilo 374-7 bei Little Rock in Arkansas. Dort explodierte eine 31 Meter hohe Titan-II-Rakete am 19. September 1980, weil einem 19-jährigen Soldaten bei der Wartung ein schweres Werkzeug nach unten fiel und eine Treibstoffleitung leckschlug.
Stundenlang mühte sich die Mannschaft des Silos mit Heldenmut, aber mit unzureichenden Gerätschaften und wirren Befehlsketten, der sich anbahnenden Katastrophe Herr zu werden – vergebens. Der explosive Raketentreibstoff flog schließlich in die Luft. Der Kopf der Rakete trug die Wasserstoffbombe W53 mit einer Sprengkraft von 9 Millionen Tonnen TNT – das ist dreimal mehr als alle Bomben des Zweiten Weltkriegs zusammen; die stärkste Bombe, die die USA je auf Raketen montiert haben.
Army vertuscht Panne
Der Sprengkopf wurde zwar 300 Meter hoch in die Luft geschleudert, landete mit zerfetzter Schutzhülle, jedoch ohne zu explodieren, neben einer Straße. Hinterher vertuschte die Army, was noch zu vertuschen war. Die Bombe hätte je nach Windrichtung weite Teile Arkansas verseucht. Gouverneur war damals Bill Clinton nebst Frau Hillary.
Der folgende Auszug bezieht sich auf ein anderes Feld von Zwischenfällen: die schon bei ihrer Installation veralteten Computer des Frühwarnsystems Norad (nordamerikanisches Luft- und Weltraum-Verteidigungskommando). Weil selbst die am weitesten fliegenden Interkontinentalraketen nur etwa eine halbe Stunde unterwegs waren vom Start bis zur Explosion, war auch die Reaktionszeit entsprechend kurz.
Ein Computeralarm, der sich nicht sofort als falsch herausstellte, wurde auf sogenannten Thread Assessment Conferences erwogen, zu Deutsch: Bedrohungs-Einstufungs-Konferenzen. Ein- bis zweimal die Woche mussten sie einberufen werden, schreibt Schlosser. Die Verantwortung der Generäle war enorm, denn der US-Atomkriegsplan „Single Integrated Operational Plan“ (SIOP) galt bis 1991 und erlaubte nur eine Option: einen sofortigen Gegenschlag mit vielen tausend Sprengköpfen.
Was wie eine übertriebene Szene aus dem Film „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ wirkt, war bitterer Ernst, der jeden frisch gewählten Präsidenten wieder aufs Neue erschütterte, wenn er in die Pläne eingeweiht wurde. Erst unter George Bush senior, nach dem Ende der Sowjetunion, wurde der SIOP ausrangiert. Und das, obwohl es mehrere haarsträubende Ereignisse wie das Folgende gab.
Überraschungsangriff nicht auszuschließen
Der Rechercheur:55, ist einer der bekanntesten US-amerikanischen Journalisten. Für das Buch „Command and Control“ recherchierte und schrieb er 14 Jahre. Eines seiner bekanntesten Bücher ist „Fast Food Nation“. Hierfür untersuchte Schlosser die Massentierhaltung und das Billigessen vom Stall bis zum Teller. Seit zehn Jahren arbeitet er an einem Buch über das Gefängnissystem der USA. Am 6. August erscheint „Gods of Metal“ auf Englisch. Es handelt von einem Einbruch dreier Antiatom-Aktivisten in den Hochsicherheits-Atomkomplex Y-12 in Tennessee im Jahr 2012.
„In der Nacht zum 3. Juni 1980 wurde der Sicherheitsberater des Präsidenten, Zbigniew Brzezinski, um halb drei Uhr morgens durch einen Anruf des Stabsmitglieds General William E. Odom geweckt. Sowjetische U-Boote hätten 220 Raketen auf die Vereinigten Staaten abgeschossen, sagte Odom. Diesmal war ein Überraschungsangriff nicht auszuschließen.
Die Sowjetunion war kurz zuvor in Afghanistan einmarschiert und hatte damit alle Klischees von ihrer Brutalität bestätigt, die die Anti-Abrüstungs-Lobbygruppe Committee on the Present Danger verbreitete. Die Vereinigten Staaten riefen zum Boykott der Olympischen Spiele in Moskau auf, und die Beziehungen der beiden Supermächte erreichten den tiefsten Punkt seit der Kubakrise.
Brzezinski forderte Odom auf, ihn erneut anzurufen, sobald eine Bestätigung des Angriffs und der vorgesehenen Ziele vorliege. Die Vereinigten Staaten würden sofort zurückschlagen müssen, und bei genauen Informationen über den Angriff wollte Brzezinski den Präsidenten unterrichten.
Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki
Bei seinem nächsten Anruf erklärte Odom, 2.200 Raketen seien auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, fast alle Langstreckenraketen des sowjetischen Arsenals. Brzezinski war schon im Begriff, das Weiße Haus zu informieren, als Odom erneut anrief. Die Norad-Computer meldeten zwar den Start der sowjetischen Raketen, aber die Radaranlagen und Satelliten des Frühwarnsystems zeigten keine Raketen an. Ein Fehlalarm. Brzezinski hatte seine Frau weiterschlafen lassen. Die Explosion der Sprengköpfe über Washington sollte sie nicht bewusst erleben müssen.
Fehlerhafter Computerchip
Bomberbesatzungen waren zu ihren Flugzeugen gerannt und hatten die Triebwerke gestartet. Den Raketenmannschaften war befohlen worden, die Safes zu öffnen. Die fliegende Zentrale des pazifischen Kommandos hatte abgehoben. Und dann beendeten die Dienst habenden Offiziere in der nationalen militärischen Kommandozentrale des Pentagon die Threat Assessment Conference, überzeugt davon, dass keine Raketen abgeschossen worden waren. Einmal mehr widersprachen sich die Norad-Computer und die Sensoren des Frühwarnsystems.
Das Problem musste bei einem der Computer liegen, doch man fand es nicht. Ein paar Tage später alarmierten die Computer das Strategic-Air-Command-Hauptquartier und das Pentagon ein drittes Mal. Sirenen heulten, Bomberbesatzungen liefen zu ihren Flugzeugen – doch erneut meldete eine Threat Assessment Conference einen Fehlalarm.
Diesmal fanden die Techniker den Fehler: Ein defekter Computerchip war dafür verantwortlich. Norad verfügte über Standleitungen, die die Computer im Tiefbunker Cheyenne Mountain, Colorado, mit denen im SAC-Hauptquartier und im Pentagon verbanden. Um die Funktionsfähigkeit der Leitungen zu gewährleisten, sendete Norad Tag und Nacht Testmeldungen mit der Warnung vor einem Raketenangriff. An der Stelle für die Raketenzahl standen Nullen. Der defekte Computerchip hatte hier wahllos die Ziffer 2 eingesetzt, als wären 2 Raketen, 220 Raketen oder 2.200 Raketen abgeschossen worden.
Der Chip wurde ersetzt. Er kostete 46 Cent. Und man verfasste eine neue Testmeldung. Diesmal ohne Raketen.
Auszüge aus: Eric Schlosser: „Command and Control – Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit“. C. H. Beck Verlag 2013, 600 S., 25 € Hardcover, 20 € E-Book. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags
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