Atomkraft: Prüfung ist sicheres Risiko

Die Mängelliste des AKW Brunsbüttel reicht von Materialermüdungen bis zu Fehlern in den Sicherheitssystemen

AKW Brunsbüttel: Die Mängelliste doch an die Öffentlichkeit gedrungen Bild: dpa

BERLIN taz Hoch gepokert - und gewonnen: Die Deutsche Umwelthilfe hat gestern zur Vorstellung der geheimen Mängelliste des Reaktors Brunsbüttel geladen. Auf 956 Seiten sind darin Sicherheitsmängel aufgelistet und in Gefahrenklassen eingeteilt. Das kann zum Beispiel die Kategorie 4 sein, wo Bagatellen wie ein veraltetes Warnschild gegen Rutschgefahr bemängelt werden, oder Kategorie 2, in der Materialermüdungen in den unterschiedlichen Regionen des Reaktors aufgelistet sind, bis hin zu Fehlern in den Sicherheitssystemen. 705 Mängel haben Sicherheitsexperten bei Kontrollen im AKW Brunsbüttel zusammengetragen. 185 von ihnen fallen in die Gefahrenkategorie 2, in der gravierende Mängel aufgelistet werden. Oder, um es im Beamtendeutsch zu sagen: "Nachweisdefizit, das kurzfristig zu beseitigen ist".

Man muss nicht unbedingt warten, bis die Restlaufzeit des letzten Atomkraftwerks beendet ist - zumal die Betreiber die Laufzeiten zu verlängern versuchen. Schon heute kann jeder Haushalt in fünf Minuten aus der Atomenergie aussteigen und zu Ökostrom wechseln.

Umweltverbände haben die Website www.atomausstieg-selber-machen.de eingerichtet und rufen zum "massenhaften Wechsel" zu Ökostrom auf. Auf der Website werden nicht nur Fragen zum Thema beantwortet, vor allem finden sich dort Antragsformulare von vier verschiedenen Ökostromlieferanten, die allesamt unabhängig von Atomkonzernen sind.

Strom aus umweltverträglichen Energiequellen muss nicht einmal teurer sein als konventioneller Strom; in

einigen deutschen Städten sind die Preisunterschiede nur noch marginal, zumal die großen Energiekonzerne in den vergangenen Wochen ein weiteres Mal ihre Preise angehoben haben.

Für weitere Fragen ist unter der Telefonnummer (08 00) 7 62 68 52 eine Hotline eingerichtet. TAZ

Am Dienstag hatte Brunsbüttel-Betreiber Vattenfall angekündigt, die Klage gegen die Veröffentlichung der seit einem Jahr zurückgehaltene Liste zurückzuziehen. Vattenfalls plötzliche Transparenz hatte auch Schleswig-Holsteins Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) begrüßt: "Ich hatte immer wieder gefordert, dass diese Liste veröffentlicht werden kann." In welchem kritischen Zustand das AKW Brunsbüttel ist, zeigte sich schon gestern Morgen wieder: Das AKW wurde wegen "Auffälligkeiten" in den Ölkreisläufen der Transformatoren vom Netz genommen.

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte die Mängelliste jedoch auch gestern nicht. Seit über einem Jahr fordert sie Akteneinsicht und beruft sich dabei auf das EU-Umweltinformationsrecht. Laut dem auch hierzulande geltenden Gesetz hat die Umweltorganisation das Recht, die Informationen zu erhalten - mithin haben Vattenfall und die Aufsichtsbehörde in Schleswig-Holstein die Pflicht, die Daten zu veröffentlichen.

Grundlage der Liste ist die periodische Sicherheitsprüfung, die Angela Merkel (CDU) - damals noch Bundesumweltministerin - als "AKW-TÜV" 1997 eingeführt hatte, um den Sicherheitsstandard von Atomreaktoren zu erhöhen. Alle zehn Jahre müssen die AKWs demnach zum Sicherheitscheck. In Brunsbüttel begann der am 30. Juni 2001. Praktisch funktioniert das so, dass der Betreiber - die Vattenfall-Tochter VENE - selbst Anlage, Sicherheitseinrichtungen und Betriebsunterlagen prüft und das Ergebnis der Atomaufsicht mitteilt; in Schleswig-Holstein ist dafür das Sozialministerium von Gitta Trauernicht zuständig. Die Atomaufsicht wiederum beauftragt dann unabhängige Gutachter, das eingereichte Ergebnis auf Korrektheit zu prüfen.

Im Jahr 2006 - Brunsbüttel war längst wieder am Netz - gingen bei der taz Hinweise auf eine Mängelliste ein. In einem Interview mit der taz bestätigte Gitta Trauernicht, dass eine solche Liste existiert. Daraufhin hat die Deutsche Umwelthilfe ein Informationsersuchen nach dem Umweltinformationsgesetz in Kiel gestellt. Dieses sei - sagt Gerd Rosenkranz von der DUH - von der Ministerin auch "positiv beschieden" worden.

Das bedeutete aber nicht, dass die Umwelthilfe auch die Liste bekam. Vattenfall nämlich verklagte seinerseits Gitta Trauernicht. Die Argumentation des Konzerns: Die Liste ist Betriebsgeheimnis. Eine Veröffentlichung sei ein "enteignungsgleicher Vorgang". Schließlich würde der Verkaufswert des AKWs durch die Mängelliste drastisch geschmälert. Trauernicht erklärte daraufhin: "Ich bin durch die Klage von Vattenfall daran gehindert, die Liste der offenen Punkte aus der Sicherheitsanalyse von Brunsbüttel zu veröffentlichen."

Was folgte, ist ein juristisches Marathon, das Vattenfall erst gestern dadurch beendet hat, dass der Konzern am Mittag ankündigte: Wir geben die juristische Auseinandersetzung auf. Während des Streits wurde aber so viel Aktenpapier produziert, dass die Atomspezialisten der Umwelthilfe Anhaltspunkte für den Inhalt der Sicherheitsanalyse aus dem Jahr 2001 bekommen.

Die meisten von ihnen könne man getrost vergessen - 467 Punkte sind in den niedrigen Dringlichkeitskategorien K3 oder K4 eingestuft. Rosenkranz: "Wirklich bedenklich sind dagegen die unter K2 eingestuften 172 Defizite." 2001 wurde mit der Sicherheitsprüfung begonnen, sechs Jahre später sind nach Recherchen der DUH 7 dieser 172 Defizite behoben. Rosenkranz: "Das bedeutet: Der Reaktor läuft mit 165 Defiziten." Vier davon werden in der Liste unter dem Themengebiet "Reaktorschutz" geführt, 85 firmieren unter "Materialverhalten", 9 unter "Störfallszenarien", 8 unter "Strahlkraftbelastung".

Das Vattenfall ein Risiko bewusst in Kauf nimmt, daran glaubt auch die Deutsche Umwelthilfe nicht. "Wenn ein AKW hochgeht, ist das das Ende des betreibenden Unternehmens", sagt DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch. Allerdings gebe es unterschiedliche Auffassungen von Sicherheit. Wie auch der neue Störfall zeigt, der gestern aus Brunsbüttel gemeldet wurde. Nach Auffälligkeiten im Kreislauf des Transformatorenöls musste die Leistung des gerade erst wieder angefahrenen Reaktors heruntergefahren werden. Rosenkranz: "Das zeigt, dass er erst angefahren wurde und die Prüfung des Trafos im Nachhinein erfolgte."

Gemäß Atomkonsens soll das Kraftwerk 2009 vom Netz. Vattenfall hat beantragt, Laufzeiten des nie ans Netz gegangenen AKWs Mühlheim-Kärlich auf Brunsbüttel zu übertragen - was wenig Chancen auf Erfolg hat, denn das Atomausstiegsgesetz schließt dieses explizit aus. Mit einem zweiten Antrag will Vattenfall die Laufzeit seines Reaktors in Krümmel auf Brunsbüttel übertragen, von einem jüngeren auf ein älteres AKW. Das Atomgesetz erklärt ein solches Verfahren in begründeten Ausnahmefällen für möglich. "Vattenfall will aus wirtschaftlichen Erwägung die Entscheidung abwarten", sagt Rosenkranz.

Tatsächlich hat das Sozialministerium gestern Mittag die Liste ins Internet gestellt. "Für über 100 Punkte" der Kategorie 2 "liegen abgeschlossene, positive Prüfergebnisse der Gutachter vor", erklärte Gitta Trauernicht. Die übrigen Punkte befänden sich im Prüfverfahren und müssten bis Jahresende abgearbeitet werden. Nach Angaben des Ministeriums führt die Liste sogar 185 Punkte in der Kategorie 2. Laut Rosenkranz bedeutet das: "Der Reaktor läuft mit 85 kurzfristig abzustellenden Defiziten weiter."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.