Atomausstieg wird real: Abschaltfeier für Grohnde
Zum Jahreswechsel geht das umkämpfte AKW vom Netz. Umweltschützer wollen das in der Silvesternacht vor Ort feiern. Die Belegschaft ist traurig.
Die ganz große Party wird es allerdings schon wegen Corona nicht. Aus Göttingen etwa wollen sich sechs Aktive auf den rund 100 Kilometer langen Weg nach Grohnde machen, erzählt Ute Simmerling von der örtlichen Anti-Atom-Initiative. „Wir haben auch schon einen Kleinbus organisiert, suchen dafür aber noch einen Fahrer.“
Drinnen im Kraftwerk werde an Silvester niemandem zum Feiern zumute sein, sagt AKW-Leiter Michael Bongartz: „Für uns Kraftwerker ist das ein trauriger Moment, denn die Anlage ist in einem sehr guten Zustand. Wir haben unseren Auftrag, für eine sichere und verlässliche Stromversorgung zu sorgen, mit großer Leidenschaft erfüllt.“ Diese Aufgabe müssten nun andere übernehmen.
„In den vergangenen fast 37 Jahren haben wir in Grohnde mehr Strom erzeugt als jedes andere Kraftwerk auf der Welt“, fügt Bongartz hinzu. Seit der ersten Netzsynchronisation am 5. September 1984 sei der Reaktor insgesamt „acht Mal Weltmeister“ in der Jahresstromerzeugung gewesen und habe dabei „zwei Mal einen Weltrekord“ aufgestellt.
280 meldepflichtige Ereignisse
Das Kraftwerk habe eine durchschnittliche Verfügbarkeit von gut 91 Prozent aufgewiesen – auch dies ein Spitzenwert im internationalen Vergleich. Ein weiterer Rekord sei im Februar 2020 mit der Erzeugung der 400-milliardsten Kilowattstunde hinzugekommen.
Atomkraftgegner machen eine andere Bilanz auf. Seit der Inbetriebnahme des Kraftwerks habe es dort etwa 280 meldepflichtige Ereignisse gegeben. 1985 fiel bei einer Revision auf, dass das Hochdruck-Notkühlsystem nicht funktionierte, weil eine der vier Pumpen Gas statt Wasser enthielt.
Ein Leck im Primärkühlkreislauf, befand der Umweltverband BUND, hätte damals „zur Kernschmelze und damit zum Super-GAU führen können“. Verwiesen wurde auch auf Gefahren durch Einwirkungen von außen, etwa durch einen terroristischen Anschlag auf das AKW und das auf demselben Gelände errichtete Zwischenlager.
Im Juni 2014 untersagte das niedersächsische Umweltministerium das Hochfahren des Reaktors nach einer Revision und schaltete die Staatsanwaltschaft ein. Es bestand der Verdacht, der Betreiber habe eine Schweißnaht an einer Armatur schlampig reparieren lassen, um das AKW schnellstmöglich wieder ans Netz zu bringen.
Bereits der Bau des AKW Grohnde war heftig umkämpft. Bei schweren Auseinandersetzungen am Bauplatz wurden am 19. März 1977 Hunderte Demonstranten und Dutzende Polizisten teils schwer verletzt. Im Juni 1977 errichteten Bürgerinitiativen auf dem geplanten Kühlturmgelände ein Anti-Atom-Dorf, in dem sogar eine Hochzeit gefeiert wurde. Ende August rückten 1.500 Polizisten an und zerstörten die über 20 Hütten, ein Windrad, einen Backofen und den Stall für das Dorfschwein „Genscher“.
Michael Bongartz, Leiter des Atomkraftwerks Grohnde
Auch in den Folgejahren gab es am Atomkraftwerk immer wieder Proteste. Am Ostermontag 2011 beteiligten sich bis zu 20.000 Menschen an einer Umzingelung des Kraftwerks. Ebenso viele machten am 9. März 2013 anlässlich des Fukushima-Jahrestages bei einer „Katastrophen-Simulation“ rund um das AKW mit.
2015 beantragten Anwohner beim Land Niedersachsen die vorzeitige Abschaltung; über eine nachgereichte Klage wurde nicht mehr entschieden. Seit 2017 forderten immer mehr Städte, Gemeinden und Kreise in der näheren und weiteren Umgebung die Stilllegung des AKW. Fast 20 kommunale Körperschaften in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen verabschiedeten entsprechende Resolutionen.
Ulrich Räbiger hat oft gegen das Atomkraftwerk demonstriert, auch 1977 bei der „Schlacht um Grohnde“ war er dabei. Heute ist Räbiger Fraktionschef der Grünen im Hildesheimer Stadtrat. Silvester will er noch ein letztes Mal nach Grohnde fahren – um einen Abschluss zu finden, wie er der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung sagte. Denn was auch immer in den Jahrzehnten bis heute passiert sei: „Das Kapitel Grohnde endet jetzt für uns.“
17 Jahre Rückbau
Für die Kraftwerker endet es nicht: Sie bereiten sich bereits auf die Zeit nach der Abschaltung vor. Mit dem Ende des Regelbetriebes beginnt die Phase des Rückbaus. Der Betreiber Preussen-Elektra rechnet damit, dass allein der Abriss des nuklearen Teils rund 15 Jahre dauern wird. Dazu kämen noch rund zwei Jahre für den Abbruch der Gebäude.
Der Rückbau sei ein „hoch komplexes Unterfangen“, sagt Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD). Er sieht das Land in der Pflicht, den flüssigen Ablauf aller Genehmigungsverfahren zu gewährleisten, rechtzeitig für die entsprechenden Lagerkapazitäten zu sorgen und den Abriss so zu einer Erfolgsgeschichte zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen