Arzt zu kindlichem Übergewicht: „Kinder sind ja sehr brutal“

Übergewichtige Kinder leiden häufig auch unter dem Gespött ihrer Altersgenossen, sagt der Düsseldorfer Kinder- und Jugendarzt Hermann Kahl.

Kinderfüße auf einer Personenwaage

Die Empfehlung gegen Übergewicht: viel Bewegung und möglichst wenig gezuckerte Snacks Foto: dpa

taz: Vor einiger Zeit warf der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) der Regierung vor, sie hätte nicht genug getan, um gegen kindliches Übergewicht vorzugehen. In Schuleingangs­untersuchungen stagnieren jedoch die Zahlen seit 10 Jahren.

Hermann Kahl: Sie haben recht. Es sind nach wie vor 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig oder adipös. Aber wenn man es im Detail analysiert, dann stellt man fest, dass die Zunahme in prekären Schichten groß ist. Die Anzahl der fettleibigen Kinder hat sich laut der KIGGS-Studie vom letzten Jahr seit der ersten Befragung 2003 vervierfacht.

Ab wann wird kindliches Übergewicht gefährlich?

Über der 90. Perzentile spricht man von Übergewicht, ab der 97. von Adipositas. Das wäre etwa ein fünfjähriger Junge, der 24 Kilogramm wiegt. Diejenigen, die mit 2 oder 3 Jahren schon dick sind, sind sehr wahrscheinlich auch im Erwachsenenalter zu dick. Kinder, die vor der Pubertät übergewichtig werden, haben massive Probleme, die Kilos wieder loszuwerden. Diese Kinder entwickeln auch häufiger Folgekrankheiten wie Diabetes Typ 2 oder Bluthochdruck schon in jungen Jahren.

Adipöse Kinder haben auch eine katastrophale Lebensqualität. Sie bewerten diese so schlecht wie krebskranke Altersgenossen.

Richtig. Kinder sind ja sehr brutal, sie hänseln zu dicke Altersgenossen. Die Betroffenen reagieren dann mit Ängsten, Schulverweigerung oder Schlaflosigkeit. Deswegen muss dringend etwas passieren.

Was hat die Politik denn bislang getan?

Facharzt für Kinder- und Jugend­medizin sowie Kinder- und Jugend­kardiologe. Er hat seine Praxis in Düsseldorf. Beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) ist er Presse­sprecher.

Sie hat ihre Strategie auf die individuelle Prävention, also auf das Verhalten der Betroffenen und auf die Selbstverpflichtung der Industrie ausgerichtet. Aber das hat, wie wir an den neuen KIGGS-Zahlen ­sehen, nichts genutzt.

Was wären Ihrer Meinung nach erfolgreiche Maßnahmen, die die Politik ergreifen könnte?

Wir fordern, dass der Staat endlich durchgreift und sagt, es darf nur eine bestimmte Menge an Zucker, Fett und Salz in den Lebensmitteln und Getränken drin sein, weil das einer der Hauptauslöser für Adipositas bei Kindern und Jugendlichen ist. Das könnte man über eine Zuckersteuer erreichen.

Kaufland will etwa den Zucker-, Salz- und Fettgehalt seiner Eigenmarken bis 2021 um durchschnittlich 20 Prozent reduzieren. Das klingt doch gut?

Lebensmittel und der Umgang damit sind auch das Thema des aktuellen Buchs der taz-Autorin Kathrin Burger: „Foodamentalismus. Wie Essen unsere Religion wurde“, riva Verlag, München 2019, 272 Seiten, 16,99 Euro

Ob es genug ist, weiß ich nicht, aber es wäre ein erster Schritt. Danone hat das in Frankreich auch gemacht, aber nicht in Deutschland, deshalb können wir nicht weiter auf Freiwilligkeit setzen.

Sie fordern außerdem ein Ampelsystem, das Lebensmittel mit Grün als gesund und mit Rot als ungesund ausweist. Kritiker sagen, dass dies schwierig wird, weil etwa Pflanzenöle wie Rapsöl, das als besonders gesund auch für Kinder gilt, mit einem roten Fettpunkt belegt wären.

Es gibt ja eine Gesellschaft für pädiatrische Ernährung, die müsste mit ins Boot kommen, das sind Fachleute. Es geht auch vor allem um Fertigprodukte, die an Kinder vermarktet werden und dafür entsprechend portioniert und verpackt sind. Wichtig wäre parallel auch ein Werbeverbot ungesunder Lebensmittel für die Zielgruppe Kind. Denn auch die ständige Vermarktung von kalorienreichen Kinderlebensmitteln und Snacks im Fernsehen wirkt leider sehr gut.

Warum ist der BVKJ aus der Plattform „Ernährung und Bewegung“ ausgestiegen, einem Bündnis aus Regierung, Fachverbänden und Industrie?

Über all die Jahre ist dieser Zusammenschluss von der Lobbyarbeit der Industrie stark beeinflusst worden. Die enge Verbindung zur Industrie ist aber, wie wir gesehen haben, wenig hilfreich bei unseren Bemühungen, kindliches Übergewicht zu reduzieren.

Sitzen Kinder- und Jugendärzte nicht an allererster Front bei diesen Bemühungen?

Als Arzt kann man nur die Eltern informieren und bitten, dass sie sich um ihre Kinder kümmern. Aber hier muss es eine viel breiter angelegte Informationskampagne geben, die man aus den Fett- und Zuckersteuern finanzieren könnte. So könnte man auf mehreren Ebenen, in den Kindergärten, bei den Krankenkassen oder im Gesundheitsministerium, aktiv werden. Es sollten die wörtlich gleichen Informationen sein, die immer wieder auf die Kinder, Jugendlichen und Eltern treffen. Wenn ich höre, dass in bildungsfernen Schichten die Adipositas zunimmt, muss man doch überlegen, wie man an diese Eltern herankommt. Da brauchen Sie eine besondere Form der Kommunikation. Sprache alleine reicht nicht, Schulungen müssten hier angeboten werden.

Sind die von Ihnen geforderten Maßnahmen evaluiert?

Aus Ländern, die entsprechende Steuern eingeführt haben wie etwa Mexiko und die skandinavischen Länder, weiß man, dass es Effekte gibt, etwa dass der Konsum von zucker­reichen Softdrinks durch eine Zuckersteuer zurückgeht.

Einige Studien zeigen, dass sich übergewichtige Kinder und ihre schlanken Altersgenossen gar nicht so sehr in ihrem Essverhalten, etwa was Süßigkeiten oder Fast Food angeht, unterscheiden …

Es geht immer um beides, Ernährung und Bewegung. Kinder sitzen viel vor den Monitoren und knabbern dann nebenher. Oft wird aber auch die Aufnahme von übergewichtigen Kindern in Sportvereinen abgelehnt. Hier sollte man auf die Vereine einwirken, dass die Kinder leichter aufgenommen werden.

Was ist aus der Idee geworden, Städte so zu gestalten, dass sich Kinder mehr bewegen?

Daraus ist nichts geworden. Hin und wieder sieht man mal einen schönen Spielplatz, aber das war es dann auch. Dass sich Kinder weniger als früher bewegen, sieht man etwa an den Schuleingangsuntersuchungen, wenn die Fünf- und Sechsjährigen nicht mehr so weit springen können. Die Motorik leidet.

Was gibt es noch für Ursachen für kindliches Übergewicht?

Natürlich spielt die Genetik eine Rolle. Wenn die Eltern übergewichtig sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Kinder es auch werden. Hier spielt aber auch das Vorbildverhalten der Eltern mit. Bewegungsarmut wird ja durch die Medien gefördert. Da haben die Eltern die Verantwortung, zu sagen: „Du gehst jetzt mal an die frische Luft.“ Das passiert heute vielfach nicht mehr. Grundsätzlich sind Eltern eine wichtige Säule, wenn es um die Verhinderung von Übergewicht geht.

Warum begünstigen Armut, soziale Ausgrenzung und Bildungsferne Übergewicht?

Die Anzahl der Fastfood-Anbieter ist beispielsweise besonders hoch in sozial schwachen Gegenden. Ich finde das unverantwortlich. Ab und zu einen Döner oder einen Hamburger zu essen ist ja kein Problem. Aber wenn Kinder dauernd diese hochkalorischen Produkte essen und sich dann noch kaum bewegen, dann werden sie zwangsläufig dick.

Wie kann ein Kind überschüssige Pfunde loswerden?

Eine gute Therapie umfasst Ernährungsberatung und Sport. Man muss Pläne aufstellen und die auch kontrollieren. Das muss sehr eng an den Kindern und Familien verlaufen. Wir wissen von so vielen Kindern, die in eine Kur gefahren sind, dort haben sie einige Kilo abgenommen, aber nach 2 Monaten wieder daheim waren sie so dick wie vorher. Die Nachhaltigkeit der Angebote ist gering.

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