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Die Pflicht, den Opfern Gesichter zu geben

Er gehörte zu Berlin wie der Ku’damm. Artur Brauner produzierte über 300 Filme. Seine „jüdischen Filme“ aber waren ihm ein Herzensanliegen. Am Sonntag ist er im Alter von hundert Jahren gestorben

Artur Brauner Foto: Daniel Biskup/laif

Von Ulrich Gutmair

Das Erste, was Artur Brauner nach dem Krieg tun wollte, war einen Film über die Schreckensherrschaft der Nazis und die Ermordung der Juden zu drehen. Aber niemand wollte 1946 einen solchen Film finanzieren, die Alliierten hatten andere Sorgen. Also gründete er die Central Cinema Company, kurz CCC, und produzierte eine Schmonzette für die Massen, die Komödie „Herzkönig“, um mit dem erwirtschafteten Geld einen jener finanziell verlustreichen Filme zu machen, mit denen Brauner die „schwarzen Löcher“ im Gedächtnis der Deutschen ausleuchten wollte. Über zwanzig solcher Filme waren es am Ende, sie sind Atze Brauners Vermächtnis. Am Sonntag ist er im Alter von hundert Jahren gestorben.

Abraham hatten ihn seine Eltern genannt, doch er legte sich als junger Mann den Namen Artur zu. „Nicht dass ich mich des Namens Abraham schämen würde, ohne Abraham wären wir alle nicht da, da gäbe es weder eine jüdische, eine christliche noch eine muslimische Religion“, sagte Brauner mir, als ich ihn kurz vor seinem 90. traf, um ihn für die taz zu interviewen. Ich kann mich daran erinnern, dass ich überrascht war, als er nach unserem Gespräch ins Auto stieg und davonfuhr.

Brauner gehörte zu West-Berlin wie der Ku’damm. Er war einer der erfolgreichsten Filmproduzenten im Nachkriegsdeutschland, fast 300 Filme hat er produziert. Seine CCC hatte ihre große Zeit in den Fünfzigern und Sechzigern. In ihren Spandauer Studios wurde Massenware produziert, begehrt in der Wirtschaftswunderzeit.

Brauner produzierte aber auch Filme mit revolutionären Regisseuren. Dario Argentos Filmdebüt etwa, den Horrorklassiker „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ von 1969. Zwei Jahre später brachte Brauner einen Katastrophenfilm des Trashmeisters Jess Franco heraus. Auch Fritz Langs Spätwerk „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ ist eine Produktion der CCC.

Doch Brauners Herzensanliegen waren die Filme, die an die Schoah erinnern sollten: „Ich habe mir damals gesagt: Wenn ich überlebe, dann muss ich etwas tun, für diejenigen, die tot sind. Und das sind so viele. In meiner eigenen Familie sind es 49 Personen. Ich war immer der Ansicht, dass ich die Pflicht habe, die Opfer im Tod zu verewigen und ihnen Gesichter zu geben.“

„Zeugin aus der Hölle“ von 1965/67 handelt vor dem Hintergrund des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von einer ehemaligen Gefangenen des Frauen-KZ Struthof, die perfiden Experimenten zum Opfer fiel. Der Film zeigte eindrücklich, dass Trauma und Angst die Überlebenden noch 20 Jahre nach Kriegsende quälten. 1961 widmete sich „Lebensborn“ dem gleichnamigen NS-Programm. 1980 ließ Brauner die Lebensgeschichte der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon verfilmen.

„Hitlerjunge Salomon“ von 1990 handelt von den Schuldgefühlen eines Jungen, der als vermeintlicher Vorzeigearier den Krieg überlebt. Der Film wurde mit einem Golden Globe geehrt. „Er hätte den Oscar gewonnen, wenn die deutsche Auswahlkommission – ich kann nur lachen, Nicht-Auswahlkommission nenne ich das – nicht dagegen opponiert hätte“, meinte Brauner. In Hollywood wusste man nun trotzdem, wer dieser Artur Brauner aus Deutschland war. Damit war die Reihe seiner „jüdischen Filme“, wie er sie selbst nannte, aber noch nicht zu Ende. Es folgten unter anderem „Babi Jar“ (2003) und „Der letzte Zug“ (2006).

Am 1. August 1918 wurde Artur Brauner in Lodz geboren. Sein Vater war der Holzgroßhändler Moshe Brauner aus Kattowitz, seine Mutter Brana stammte aus Odessa. Als Jugendlicher wollte er Schauspieler werden. Für Mädchen interessierte er sich mehr als für den Zionismus. Er floh in die Sowjetunion, als die Juden von Lodz ghettoisiert wurden, und überlebte den Krieg unerkannt. Erst mit knapp 90 erfuhr er, dass die Deutschen unweit vom elterlichen Haus einen Sammelpunkt eingerichtet hatten, um die Juden der Stadt zu deportieren.

„Das ist das Schrecklichste, was ich je gehört habe, ich träume jede Nacht davon: Von diesen Hunderttausend aus Lodz hat sich kein Mensch gerettet. Sie sind auf dem Weg nach Chelmno vergast worden, das war billig, es kostete nur das Benzin. Die Lastwagen sind angekommen, die Toten wurden ausgeladen und schon 15 Minuten später fuhren sie nach Lodz zurück, um die nächsten Opfer abzuholen. Nur vier Kilometer von unserem Haus, da war der Tod.“

Eines der wichtigsten Werke Brauners ist jener Film geblieben, der sein erster hätte werden sollen. „In ‚Morituri‘ wollte ich das auf die Leinwand bringen, was ich selbst erlebt hatte. Mit diesem Film wollte ich an das Gewissen der Welt appellieren,“ schrieb Brauner in seiner autobiografischen Geschichtensammlung mit dem selbstbewusst-ironischen Titel „Mich gibt’s nur einmal“, die seiner Frau Maria gewidmet ist, mit der er 70 Jahre verheiratet war. Sie starb 2017.

Mit seinem Film „Morituri“ wollte er an „das Ge­wissen der Welt appellieren“

„Morituri“ entstand 1947/48 unter abenteuerlichen Bedingungen in Brandenburg. Die Rote Armee stellte Scharfschützen zur Verfügung, die SS-Männer spielten. Weil sie keine Platzpatronen hatten, schossen sie scharf. Drei der Darsteller waren Überlebende. Der Film spielt in einem Wald irgendwo in Osteuropa, in dem sich eine Gruppe Verfolgter vor den Nazis versteckt. Es ist ein Film, der davon erzählt, was passiert ist im von den Deutschen eroberten Osteuropa. Er ist aber auch ein großes humanistisches Werk, das für Milde plädiert gegenüber den Hunderttausenden von jungen Verführten, die glaubten, sie würden für Volk und Vaterland kämpfen.

„Morituri“ ist ein filmisches Mahnmal, das nie die Gesichter der Vollstrecker der Massenvernichtung zeigt. Regisseur Eugen York rückte die Internationale der Opfer als wahre Vertreter der Menschheit in den Blick, ohne sie dabei zu überhöhen. „Morituri“ zeigt, was es heißt, unter unmenschlichen Bedingungen zu leben. Er zeigt aber auch, dass die Würde der Entwürdigten im Festhalten an ihrer Zeugenschaft liegt.

Nazis sorgten dafür, dass dieses filmische Zeugnis ungehört blieb. Sie machten in den Kinos Krawall, als der Film aufgeführt wurde, schlugen die Scheiben von Kinos ein. Bald wurde er abgesetzt. Er verschwand in der Versenkung und es dauerte sechs Jahrzehnte, bis er schließlich als DVD wiederveröffentlicht wurde. „Ich wollte mit allen Filmen dieser Art erreichen, dass die Leute zur Besinnung kommen, dass sie sehen, was es bedeutet, wenn eine Diktatur, wenn Unmenschlichkeit regiert“, hat Artur Brauner gesagt. „Ich habe gehofft, dass es eine Besserung in der Moral, in den Gefühlen derjenigen ergibt, die so etwas sehen. Aber ich bin enttäuscht, es hat sich nichts geändert. Damals gab es alte SS-Leute, die die Kinos gestürmt haben, heute gehen die Leute einfach nicht hin. Wenn ein Film den Untergang des jüdischen Volkes behandelt, geht niemand hinein, wenn ein Film den Untergang von Adolf Hitler zeigt, kommen 4,6 Millionen Zuschauer.“

Trotz aller Enttäuschung war sich Artur Brauner aber sicher, dass seine filmische Gedächtnisarbeit auch Erfolg hatte: „Ich glaube, dass eine ganze Reihe von Menschen, besonders Jugendliche, die vielleicht anfällig sind für Nazipropaganda, keine Nazis mehr werden, wenn sie diese Filme gesehen haben.“ In diesem Sinne wäre es nur angebracht, wenn die öffentlich-rechtlichen Sender jetzt Brauners jüdische Filme zeigen würden, allen ­voran ­„Morituri“.

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